Wer hätte von Herman Bavinck (1854-1921) eine Theologie der Familie erwartet? Der weitsichtige niederländische Denker, neben Abraham Kuyper (1837-1920) einer der führenden Köpfe der Neocalvinisten der ersten Generation, heiratete selbst mit 37 Jahren und war Vater einer Tochter. Das 1908 erstmals gedruckte Buch über die Familie erschien 2012 von Nelson Kloosterman übersetzt in der englischen Sprache.
Nachhaltig geprägt war Bavinck von seiner eigenen Herkunftsfamilie als zweiter von sieben Kindern. Sein Vater war Prediger und Lehrer an der neu gegründeten theologischen Ausbildungsstätte in Kampen, ein gottesfürchtiger und eher zögerlicher Charakter, seine Mutter eine bodenständige Frohnatur. Einer seiner Biographen meint, dass Bavinck bei diesen Worten an seine eigene Familie gedacht hatte:
Keine Schule, keine Grundstufe, keine Tagesbetreuungsstätte, keine Regierungsinstitution kann die Familie ersetzen oder verbessern. Die Kinder kommen aus der Familie, wachsen in der Familie auf ohne selber zu wissen wie. Sie werden ausgebildet und aufgezogen, ohne dafür genaue Rechenschaft ablegen zu können. Die Erziehung, die durch die Familie bereitgestellt wird, ist gänzlich von derjenigen der Schule unterschieden. Sie ist nicht an einen Plan von Aufgaben gebunden, sie lässt sich nicht in Minuten und Stunden messen. Sie besteht nicht nur in Instruktion, sondern auch in Rat und Warnung, Führung und Mahnung, Ermutigung und Trost, Besorgnis und Teilnahme. Alle im Haus tragen zur Erziehung bei – die Hand des Vaters, die Stimme der Mutter, der ältere Bruder, die jüngere Schwester, das Kind im Korbwagen, das kränkliche Geschwisterlein, Grossmutter und Grosskinder, Onkel und Tanten, Gäste und Freunde, Wohlfahrt und Ungemach, Feste und Trauer, Sonntage und Werktage, Gebete und Danksagungen zu den Mahlzeiten und das Lesen von Gottes Wort, Morgen- und Abendandachten. (Pos. 1906-1911)
Bavinck entwickelt eine eigentliche Theologie der Familie aus einer heilsgeschichtlichen Optik. Ein zentraler Gedankengang ist der göttlich-trinitarische Ursprung der Familie. „Die Autorität des Vaters, die Liebe der Mutter und der Gehorsam des Kindes formen in ihrer Einheit das dreifache Band, das die Beziehungen innerhalb der Gesellschaft zusammenbindet und erhält. Kein Mann ist vollständig ohne gewisse weibliche Eigenschaften, keine Frau ist komplett ohne gewisse männliche Qualitäten, und beiden, Mann wie Frau, wird das Kind als Beispiel vorgehalten (Mt 18,3). Diese drei Charakteristika und Geschenke werden in jeder Gesellschaft und jeder Zivilisation benötigt, in der Kirche und im Staat.“ (Pos. 345-349) Mit deutlichen Worten beschreibt Bavinck dann die Auswirkungen der Sünde auf die Familie. „Adam und Eva sündigten nicht nur als Individuen, als Personen, sondern sie sündigten auch als Ehemann und Ehefrau, als Vater und Mutter. Sie spielten mit ihrem eigenen Schicksal, mit dem Schicksal ihrer Familie und mit dem Schicksal der ganzen menschlichen Rasse.“ (Pos. 387-388) Trotz des Bösen ist die Familie als göttliche Institution durch alle Zeiten und Kulturen hindurch bewahrt worden. Wenn eine Familie durch den christlichen Glauben in den Wirkungsbereich der rettenden Gnade kommt, wird sie weder geschwächt noch neu aufgebaut. Es geht vielmehr darum, dass die Beziehungen zwischen Mann, Frau und Kindern erneuert und wiederhergestellt werden.
Wie für Bavinck üblich, beschreibt er die Entwicklung des Familienbildes durch die Kirchengeschichte ebenso wie er ihre Entwicklung aus der Weltsicht der Evolution darstellt. Gewichtige Worte findet Bavinck zum Verhältnis zwischen Familie und Staat. Die gesamte Gesellschaft ist „organisch in der Familie enthalten“ (Pos. 2022) und besitzt eine von den anderen Institutionen (Staat und Kirche) unabhängige Existenz. Letztere sind erst nach dem Sündenfall nötig geworden. Dem zunehmenden Übergriff des Staates in die Sphäre der Familie besteht Bavinck skeptisch gegenüber. Jede Erneuerung beginnt im Inneren des Menschen, sie wird nicht durch eine stärker reglementierte Umgebung sichergestellt. „In der modernen Ära wird, so wie die Erwähnung der Sünde entwischt, die Schuldigkeit für jede Misere ausserhalb der Person gesucht und den Institutionen, sozialen Umständen und der Organisation des Staates zugeschrieben.“ (Pos. 1417-1419) Die Sünde findet aber auch Eingang in die Familie: „Manchmal ist die Familie ein kleines Königreich, das in sich selbst geteilt ist.“ Eine solche Trennung könne darum so gravierend sein, weil ihre Einheit so tief und solide angelegt worden sei (Pos. 1682-1685). Nichts desto Trotz ist die Familie eine Gemeinschaft, die durch Gottes Wille zustande gekommen ist. „Die Familie ist eine Schule für die Kinder, aber in erster Linie ist sie eine Schule für die Eltern.“ (Pos. 1693-1694)
Bavinck verschloss seine Augen nicht vor aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen, so etwa dem ändernden sozialen Platz der Frau. Ihr ständen nicht nur das Schulzimmer und die Spitäler offen, sondern zunehmend auch die Colleges und Universitäten, die Kanzeln und Richterbänke. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit würde sich von der häuslichen Arbeit weg zur Lohnarbeit verschieben. Um ihre volle Unabhängigkeit zu erlangen und sich nicht nur von Mann und Haushalt, sondern auch von den Kindern zu befreien, müssten sie all jene Berufstätigkeiten ausüben können, die bislang den Männern vorbehalten waren.
James Eglinton, der selbst zu Bavinck promoviert hat, schreibt in seinem Vorwort, dass sich das Buch wohltuend von moralistischen Zehn-Schritte-Ratgebern abhebt. Es ist dringend nötig, in der aktuellen Desorientierung die Eckpfeiler der wichtigsten göttlichen Schöpfungsinstitution neu festzustellen. Dann und nur dann wird es möglich sein, als christliche Familie mutig jenseits von aktuellen Trends zu leben, damit diese ihre grundlegende Lern- und Schutzfunktion ausüben kann. Es bedeutet gleicherweise, Gottes normative Anweisungen ernstzunehmen und sich vor unrealistischen Ansprüchen – alle Mitglieder der Familie sind und bleiben Sünder – bewahrt zu bleiben.
„Der Einzelne und die Gesellschaft können nur dann als Ehemann und Frau, Eltern und Kinder, Regierung und Bürger, Arbeitgeber und -nehmer in Frieden leben, wenn eine moralische Autorität über ihnen steht, die ihre Rechte und Pflichten definiert und damit die Interessen jedes Einzelnen wahrt.“ (Pos. 2324-2325) „Jemand, der gelernt hat seinen Vater zu ehren, respektiert später die Autorität derer, durch die es Gott gefällt über ihn zu regieren. Jemand, der wirklich seine Mutter liebte, kann nicht die Ehre einer anderen Frau antasten.“ (Pos. 2349-2350) Zugegeben: Einige Gedanken sind gewöhnungsbedürftig, angefangen bei der Familie als Abbild der Trinität. Wer sich jedoch in das Buch eingelesen hat, wird beim Lesen immer wieder Kostbarkeiten entdecken.