(Dieser Beitrag wurde von Ray Ortlunds Post “Is Your Church Functionally Liberal?” angeregt.)
Papier ist geduldig
„Visionen sind tote Bekenntnisse und deshalb gänzlich überflüssig.“ Dieser Meinung war ein früherer Vorgesetzter von mir. Ganz Unrecht hatte damit er nicht. Bekenntnisse mögen schön klingen, viel wichtiger ist jedoch, was im Alltag eines Unternehmens gelebt wird. Was ich an diesem Statement interessant finde, ist die Einsicht, dass der Mensch sehr wohl um einen Idealzustand weiss und Abweichungen davon intuitiv feststellen kann.
Wechseln wir in die Welt der christlichen Gemeinden. Manche haben festgeschriebene Gemeindestatuten, nicht wenige Bekenntnisse formuliert. (Mir nicht unsympathisch; viel lieber ist mir allerdings die Generations-übergreifende gemeinsame Bindung an Bekenntnisse.) Die Gemeinderealität spricht jedoch (leider) eine andere Sprache.
Besonders erschreckend zeigt sich die Differenz – man möchte bisweilen fast von einem tiefen Graben sprechen – bei der gelebten Verbindlichkeit zu Gottes Wort. Die evangelikale Welt zeichnet sich insgesamt durch ihr Bekenntnis zur Schrift als oberster Autorität aus. Im Alltag treffe ich vier beliebte Strategien an, mit denen dieses Bekenntnis umgangen wird.
Erste Falle: „Man darf nicht alles über einen Leist schlagen.“
Ein Gemeindemitglied – nennen wir es noch gleich beim Namen – ist in Sünde gefallen. (Unglücklich verklausuliert tönt das eher so: „Er/sie ist in einer Glaubenskrise.“ Oder: „Er/sie braucht Distanz zur Gemeinde.“). Es ist allen Beteiligten unangenehm. Kommt die Diskussion auf „den Fall“, so wird dir mit ernster Miene erklärt: „Es wäre zu einfach, alles über ein Leist zu schlagen.“ Was kann man da anders als zu nicken? Einige Sekunden später, nachdem innerlich die ersten Fragezeichen aufsteigen, hat sich das Gespräch schon in eine andere Richtung entwickelt und es ist irgendwie peinlich, darauf zurückzukommen.
Eine zweite Variante kommt etwas seltener vor, ist mir jedoch nicht unbekannt. Von der entsprechenden Person kommt ein augenrollendes, mit salbungsvoller Stimme geäussertes „Ich habe den Frieden darüber“ (oder alternative Formulierungen wie „für mich stimmt es“, „ich wusste tief drin, dass es richtig ist“).
Was ist geschehen? Eine am Erfordernis der Situation angepasste oder aufgrund der persönlich-existenziellen Situation getroffene Entscheidung hat die biblischen Normen übersteuert. Wehe, diese werden nach der bereits getroffenen Entscheidung ins Feld geführt oder – noch schlimmer – sogar zitiert. Da wird man gleich in die Schandecke „Frommer schlägt mit Bibelsprüchen um sich“ verbannt.
Zweite Falle: Der Spaltstock „heute“ und „damals“
Eine weitere beliebte Spielart ist ein einfaches Spaltverfahren. Was damals zu biblischen Zeiten verbindlich war, kann heute nicht mehr gelten. Mensch, Umwelt und Technologie haben sich einfach weiter entwickelt. Diese Entwicklung macht neue Prinzipien nötig. Dieser hermeneutische Kniff vereinfacht das individuelle Auswahlverfahren. Was einem passt, wird in die Kategorie „noch gültig“ gesetzt, das andere in die Kategorie „veraltet“.
Dritte Falle: „Gott spricht (unter anderem) auch durch sein Wort.“
Ich höre immer wieder mal Exponenten, die betonen, dass Gott „nicht nur durch sein Wort spricht“. Einverstanden, denke ich im ersten Moment. Doch dann steigen die Fragezeichen auf. Auf diese Weise kann Gottes Wort elegant in den Hintergrund gerückt werden. Die Selbstoffenbarung Gottes wird nur noch als Dekoration zur Begründung der eigenen Erlebnisse eingesetzt. Die punktuelle Zugabe dient sozusagen als „Feigenblatt“ für den fehlenden Bezug zur Schrift. Ohne dass man sich dies im ersten Moment bewusst wird, hat ein grundsätzlicher Wechsel stattgefunden: Die Schrift ist nicht mehr oberste Autorität von Lehre und Leben, sondern sie wird durch den Filter der Erfahrung in den eigenen Denkrahmen eingefügt.
Vierte Falle: „Gute Christen sind Vegetarier.“
Lass mich vorneweg gesagt sein: Ich esse selbst selten Fleisch. Es fällt mir jedoch auf, dass gewisse Modethemen für bestimmte Zeiten ganz nach oben auf den Kriterienkatalog der „evangelical correctness“ rücken können. Es kann sich geradezu eine Welle entwickeln, die ganze Gemeinschaften erfasst. Das Problem ist nur: Wenn der Imperativ über das hinausgeht, was die Bibel sagt, entsteht im Nu eine neue Form von Gesetzlichkeit. Jesus eigenes Urteil war scharf: Mit eigenen Geboten werden die Gebote Gottes ausser Kraft gesetzt.
Gefährliche Halbwahrheiten
Die Krux dieser vier Fallen liegt darin, dass in allen eine Teilwahrheit steckt: Gott berücksichtigt sehr wohl die Situation bzw. den Kontext und die Biografie einer Person. Dies darf jedoch nicht die biblischen Normen übersteuern. Ebenso wahr ist die Tatsache, dass im Lauf der Heilsgeschichte bestimmte Dinge ausser Kraft gesetzt wurden: Das Opfer von Jesus löste die Tieropfer des Alten Testaments ab. Die Gemeinde Jesu ist eine geistliche, keine Staatsgemeinschaft. Gott spricht durch die Schöpfung, durch andere Menschen und durch bestimmte Situationen. Die Bibel beansprucht jedoch den ersten Rang zur Beurteilung solcher Situationen. Der bewusste Umgang mit Lebensmitteln mag einem Christen gut anstehen. Nie dürfen jedoch Satzungen von Menschen in den Rang von Geboten Gottes erhoben werden.