Charles Simeon (1759-1836) war ein englischer Prediger. Als er mit dreiundzwanzig in seiner Kirche eingesetzt wurde, widersetzte sich die Kirchgemeinde. Bei seinen Predigten wurden die Kirchtüren geschlossen, sodass die Kirchgänger auf der Strasse bleiben mussten. Später blieben die Türen zwar offen, aber die Kirchbänke wurden abgeschlossen, so dass die Menschen in den Gängen stehen mussten. Klappstühle, welche Simeon aus dem eigenen Sack angeschafft hatte, wurden auf den Friedhof geworfen. Diese Situation dauerte ganze zehn Jahre, aber Simeon gab nicht auf! Heutzutage, wenn ein Christ Schwierigkeiten hat in seiner Gemeinde, dann hält er keine zehn Jahre aus. Er sagt sich: »Wenn ihr so mit mir umgeht, dann gehe ich halt!«, und schon ist er in einer anderen Gemeinde. Der Grund ist, dass die heutige Generation grosse Mühe hat mit Kritik umzugehen. Sie erwartet, dass die Gemeinde einen konstanten Fluss an Lob und Mitgefühl aufbringt. Versiegt diese Quelle, wird eine neue Gemeinde gesucht, in der Hoffnung, die Quelle sei da vorhanden.
Dieses Problem heisst Narzissmus und wird im Buch "Die narzisstische Gesellschaft" von Hans-Joachim Maaz treffend beschrieben (ich habe hier eine Besprechung zum Buch geschrieben):
Der narzisstische Mensch ist im Kern ein um Anerkennung ringender, stark verunsicherter Mensch. So tut er alles, um die Bestätigung, die er zum Leben braucht, zu erhalten. Wir alle sind in diese sündige, lieblose Welt hineingeboren und haben darum eine tief sitzende Verunsicherung, welche wir kompensieren wollen.
Maaz beschreibt in seinem Buch viele Arten, wie diese Kompensation aussehen kann. Eine davon ist das ständige Ringen um Lob, besonders sichtbar bei Menschen, die Karriere machen wollen. Es geht ihnen gar nicht so sehr um die Sache, sondern nur um die Anerkennung anderer Menschen: "Die werden staunen, wenn sie sehen, dass ich wieder befördert wurde".
Auch als Christen sind wir vor Narzissmus nicht sicher. Als Worship-Leiter und Prediger bin ich damit recht stark konfrontiert: Damit ich am Sonntag meine "Dosis Lob" erhalte, muss ich mich jedes Mal steigern. Bliebe ich bloss konstant, würde sich die Gemeinde an das Niveau gewöhnen und das nächste Mal nichts mehr sagen. Daher muss ich mich stetig steigern, indem ich immer grössere Anstrengungen mache. Dabei vergesse dabei völlig, was mein ursprünglicher Auftrag war. In diesem Moment bin ich ganz in der Narzissmus-Falle gefangen.
Nochmals ein Zitat von Maaz:
[Der Narzisst] richtet sich mit seinem Wollen und Nichtwollen nach den Reaktionen anderer und weiß am Ende gar nicht mehr, wer er wirklich ist und was er will.
Ein Prediger/Worship-Leiter der so endet, ist bloss noch ein Echo der Erwartungen der Gemeinde.
Wie entgehe ich dieser Falle?
Die Schwierigkeit ist tatsächlich, dass Narzissmus in der Welt so verbreitet ist, dass ich ihn bei mir selber gar nicht als Fremdkörper wahrnehme. Also kann ich auch als Christ sehr narzisstisch veranlagt sein und gar nicht gross auffallen, da eben alle so sind. Doch wie ist Charles Simeon dieser Falle entkommen? Wie konnte er zehn Jahre lang Ablehnung durchhalten? John Piper beschreibt in seiner Predigt, was Simeons Schlüssel dazu war:
1. Gebet: Simeon hat oft am Morgen vier Stunden lang gebetet und die Bibel gelesen. Das war das Geheimnis seiner Gnade und seiner geistlichen Stärke.
2. Demut: Entgegen dem populären Ratschlag, am Selbstwertgefühl zu arbeiten ("du musst Dich selber annehmen, Dir selbst vergeben") hat Simeon sich selber nicht vergeben, sondern hat sich seine Sündhaftigkeit wieder und wieder vor Augen geführt, um sie dann von Gottes Gnade verschlingen zu lassen. Er hat sich gesagt "ein zerbrochenes Herz wird Gott nicht verwerfen" und hat sich in in dieser Zerbrochenheit Zuflucht gesucht, um die Gnade, Annahme und Herrlichkeit Gottes umso zu erfahren. Er konnte manchmal nach längerem Gebet nur noch "Herrlichkeit, Herrlichkeit!" sagen, da er so sehr von Gottes Gnade erstaunt war.
Wie entgehen meine Kinder dieser Falle?
Doch es geht noch weiter. Wenn schon ich mich selbst davon bewahren muss, um dem Narzissmus zu verfallen, dann ist doch meine Aufgabe als Vater auch, meine Kinder davor zu bewahren. Denn auch hier gilt: Wenn ich meinen Kindern allzu viel Lob gebe, werden sie von mir abhängig. Sie handeln nicht mehr danach, ob etwas wertvoll ist oder nicht, sondern richten sich nur noch danach, ob ich sie dafür lobe. Ich habe diesen Beitrag von Hanniel wertvoll gefunden, da er mich dessen bewusst gemacht hat.
Es erscheint mir eine grosse Aufgabe, meine Kinder darauf vorzubereiten, dass sie abgelehnt werden (und das werden sie, denn es liegt in der Natur der Christen, dass sie Verfolgung erleiden). Und ich erweise ihnen einen Bärendienst, wenn ich ihnen nur Lob zuteil kommen lasse. Denn so werden sie dies als "Normalität" betrachten und jeder Situation ausweichen, wo es nicht so ist. Auch sie müssen lernen, dass die Gnade Gottes unser Motor ist. Doch das kann ich ihnen nur dann erklären, wenn ich schon selbst am Morgen mit dieser Gnade in Berührung gekommen bin.
Philipp Keller ist Worship-Leiter und Prediger in der Pfingstgemeinde Kloten. Dank sei hier an Hanniel, der ihm die Gemeinde empfohlen hat. Sein Credo ist: Das Wort Gottes nicht nur lesen, sondern auch bewundern. Er bloggt auf philippkeller.com. Auf Twitter ist er erreichbar unter @philippkellr.