Buchbesprechung: Chestertons Leben

Gilbert Keith Chesterton. Autobiographie. nova & vetera: Bonn, 2002. 367 Seiten. Gebraucht ab 10 Euro.

Chesterton ist ein Autor, mit dem ich mich in der Originalsprache schwer tue. Zum Glück sind einige Bücher von ihm übersetzt worden, so auch die in seinem Todesjahr 1936 erstmals erschienene Autobiografie. Die Übersetzung von 1952 wurde in der Neuauflage durch den Kleinverlag nova & vetera sprachlich geringfügig überarbeitet und vom Schriftsteller Elmar Schenkel (der u. a. eine Biografie zu Chestertons Zeitgenosse H. G. Wells herausgegeben hat) mit einer gehaltvollen Einleitung versehen.

In dieser Besprechung habe ich die Schwerpunkte etwas anders als üblich gesetzt. Ich beginne mit einigen Stellen, an denen die sprachliche Gewandtheit, der Witz und die Schärfe Chestertons deutlich zutage treten. Für diese Kategorie musste ich ein neues Symbol einführen, nämlich das „lachende Gesicht“.

  1. Seine Beschreibung von Kardinal Manning, dessen Auftritt er als Kind erlebt hatte: „Er schritt daher mit all seinen glühenden Faltenwürfen wie eine grosse karminfarbene Wolke des Sonnenuntergangs, indem er segnend gebrechliche Finger über die Menge erhob. Dann schaute ich auf sein Gesicht und war überrascht von dem Gegensatz.  Denn sein Antlitz war totenblass wie Elfenbein, sehr runzelig und alt, zusammengefügt allein aus Nerv, Gebein und Sehnen, mit tiefliegenden, umschatteten Augen, keineswegs hässlich, in jeder Linie von ruinenhafter grosser Schönheit.“ (64)
  2. Seine Selbstironie: „Ich pflegte zu sagen, meine Autobiographie solle aus einer Reihe von Kurzgeschichten bestehen wie die Geschichten von Sherlock Holmes. Nur waren diese erstaunlichen Beispiele der Beobachtungsgabe, während die meinen erstaunliche Beispiele mangelnder Beobachtung waren. Kurz sie sollten Abenteuer werden, die meine Geistesabwesenheit anstelle seiner Geistesgegenwart zum Gegenstand hatten.“ (169) „Es ist kein Zweifel, dass wir, was uns betrifft, jung und glücklich waren. Aber ich habe seither manchmal daran gezweifelt, ob wir auch sehr, sehr weise waren.“ (233)
  3. Eine Beschreibung einer Berühmtheit: „Ich denke, er dachte, dass das Objekt des Öffnens des Geistes das Öffnen des Geistes selbst ist. Wohingegen ich rettungslos davon überzeugt bin, dass das Objekt des Öffnens des Geistes wie das Öffnen des Mundes darin besteht, ihn wieder über etwas Solidem zu schliessen.“ (240)
  4. Über die beiden Barbiere seines Wohnortes Beaconsfield: „Der Friseur der Neuen Stadt gehört zur neuen Welt und hat die Tadellosigkeit des Spezialisten. Der andere hat die sprichwörtliche Geschicklichkeit des Bauern, beide Hände zu gebrauchen, indem er sozusagen mit der einen Hand rasiert, während er mit der anderen Eichhörnchen ausstopft oder Tabak verkauft.“ (254)
  5. Über seine Father Brown-Geschichten: „Vor einiger Zeit, als ich an einem Sommerabend behaglich dasass und einen heiteren Rückblick auf ein unverdient begünstigtes und glückliches Leben warf, berechnete ich, dass ich mindestens dreiundfünfzig Morde begangen habe und bemüht war, ungefähr ein halbes Dutzend Leichen zu verbergen, um die Verbrechen zu vertuschen…“ (340)

Als nächstes fange ich einige Beschreibungen ein, in denen er etwas über die Entstehung des Buches und der Art und Weise zu arbeiten offenbart. In seiner Erinnerung unternahm er einen Versuch mit seinem Gedächtnis: „Ich habe versucht, an die Dinge zu denken, die ich vergessen habe, indem ich die Dinge hinzufügte, an die ich mich erinnere…“ (46) So schrieb er keine minuziöse chronologische Abhandlung. „Es wäre eine mehr als tödliche Gemeinheit, wollte ich jetzt die Anmassung besitzen, über mein eigenes Leben genau zu sein, wenn ich es unterlassen habe, genau zu sein bei dem ihren.“ (327) In all seinen Schriften erkennt er „ein beträchtliches Stück Inkonsequenz und Ungenauigkeit in nebensächlichen Punkten“ (348). Es handelt sich um eine „rein persönliche Erzählung“, priorisiert mit den Fragen, die ihn beschäftigten (362) Gerade der Schluss ist darum eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem Glauben. Er blieb jedoch auf dem Boden: „Setze ich Eitelkeit und falsche Bescheidenheit beiseite (wie gesunde Leute scherzhaft zu sagen pflegen), dann lautet mein wirkliches Urteil über mein eigenes Werk, dass ich in meinem Leben eine Anzahl recht guter Ideen verpfuscht habe.“ (307)

Das führt mich zu einer kleinen Auswahl von Bemerkungen zu seinem Leben:

  • Es lag ihm fern, Dinge aufzubauschen. So schrieb er über seine ganz normale Jugend: „Ich bedauere, ausserstande zu sein, der neugierigen Öffentlichkeit als die wahre Ursache meiner tragischen Veranlagung einen finsteren, brutalen Vater vorzuführen oder eine blasse, halbvergiftete Mutter, deren selbstmörderische Instinkte mich mit dem Fluch der Versuchungen des künstlerischen Temperamentes beladen haben. Es tut mir leid, dass sich in unserer Ahnenreihe nichts Rassigeres findet als ein entfernter, einigermaßen unbemittelter Onkel, und dass ich einer Pflicht nicht genügen kann, die mir als modernem Menschen eigentlich obläge: jeden zu verfluchen, der mich zu dem gemacht hat, was ich bin. Zwar weiß ich nicht genau, was ich nun eigentlich bin, aber es scheint mir ziemlich sicher, dass das meiste davon auf meine eigenen Kosten geht.“ (36-37)
  • Über seinen Vater: „Der altmodische Engländer, wie mein Vater, verkaufte Häuser, um zu leben, aber er füllte sein eigenes Haus mit seinem Leben.“ (50)
  • Über seinen kindlichen Sinn: „Das wirkliche Kind verwechselt nicht Faktum und Fiktion. Es liebt einfach die Fiktion.“ (53) So nimmt der Mann mit dem goldenen Schlüssel eine zentrale Rolle im Buch ein. Wer war dies? Ein Mann aus einem Puppentheater. „Entscheidend ist, dass ich das Puppentheater liebte, selbst als ich wusste, dass es ein Puppentheater war.“ (58)
  • Über die Schule: Er sprach von „dem Lebensabschnitt, den man gewöhnlich Erziehung nennt, das heisst der Periode, während derer ich von irgendjemand, den ich nicht kannte in etwas unterrichtet wurde, was ich nicht kennenzulernen wünschte“ (66). „Die Idee, ich sei zur Schule gekommen, um zu arbeiten, war zu grotesk, um einen Geist auch nur für einen Augenblick zu umwölken.“ (78) Ein Lehrer nur brachte es fertig „mein tiefes und verzweifelt entschlossenes Bestreben zu durchschauen, dumm zu erscheinen“ (ebd.)
  • Über seinen Start als Schriftsteller: „Ich war damals ein ganz unbekannter und schäbiger junger Schriftsteller, der auf eine Unterredung mit einem Verleger wartete.“ „Wenn ich sage: so jung wie ich, meine ich: so schlechthin geschäftig und sogar selbstgefällig wie ich.“ (295)
  • In seinem Leben konnte er nur einen Bruchteil seiner Gedanken auspacken. „Ich für meinen Teil kann nie davon genug kriegen, nichts zu tun. Mir ist zumute, als hätte ich nie Musse gehabt, auch nur den zehnten Teil vom Gepäck meines Lebens und meiner Gedanken auszupacken.“ (230)
  • Erstaunlich ist auch seine Konsequenz, auf seiner Linie zu bleiben. „Ich habe bei meinen soliden und stämmigen britischen Landleuten immer unter dem Mangel gelitten, dass ich meine Meinungen nicht schnell genug ändern kann.“ (261)

Neugierig geworden auf das Buch? Ich muss warnen. Chesterton verbringt die ganze Abhandlung damit, von scheinbar belanglosen Begegnungen zu berichten und Personen zu charakterisieren. Beispiel: „Russel war ein Mann der Hochkirche mit einer ganz unparteiischen Bewunderung für Matthew Arnold. Beide gewannen aus diesen tiefen und weiteren Inhalten eine gewisse reiche Gemütsruhe, die jenen, die nur Männer des Parteisystems waren, versagt blieb. Ich werde nie vergessen, wie der alte Birrell in seiner Entrüstung über die ziemlich gewöhnliche Künstelei der populären Puritaner-Presse, wie sie ein sanfter Herausgeber handhabte, der den vielsilbigen Stil Dr. Johnsons nachäffte…“ (291) Ich gewöhnte mich beim Lesen daran zu fragen: Von wem spricht er jetzt schon wieder? Zu viel Energie investierte ich nicht ins Nachforschen. Die meisten Namen sind mir wieder entfallen, behalten habe ich viele kluge Bemerkungen.

Zwei Dinge haben mich insbesondere fasziniert: Zuerst sein tiefer Sinn für die Realität der Sünde. Über seine Jugend schreibt er, dass sie in seinem Geist „für immer die Gewissheit einer objektiven, greifbaren Wirklichkeit der Sünde“ zurückgelassen habe (90). „Wenn ich gelegentlich als Theoretiker erschien und als Optimist bezeichnet wurde, so vielleicht deshalb, weil ich in dieser diabolischen Welt einer der wenigen war, der wirklich an den Teufel glaubte..“ (104) „Kein Mensch weiss, wie sehr er Optimist ist, selbst wenn er sich einen Pessimisten nennt, weil er nicht wirklich die Tiefen seiner Schuld gemessen hat gegenüber dem, was ihn erschaffen und befähigt hat, sich selbst etwas zu nennen.“ (105) „Ich versuchte ganz unbestimmt, einen neuen Optimismus nicht auf dem Maximum, sondern auf dem Minimum des Guten aufzubauen.“ (114) Erst religiöse Erleuchtung offenbart dem reifen Menschen „die wahre Lehre von der Erbsünde und Menschenwürde“ (268). Vielleicht liegt darin das Geheimnis der Faszination Chestertons zugrunde. „Die Wahrheit fasst die Wirklichkeit über sich selbst ins Auge. Wenn der Prozess nur auf andere Leute angewandt wird, nennt man ihn Realismus.“ (351) Chesterton hat beides getan: Zuerst den Blick auf sich selbst geworfen, um ihn dann auf andere zu richten.

Das zweite Lernfeld ist das der Differenzierung über Menschen, deren Meinung von der eigenen abwich. Von vielen Freuden hat er sich „in seinem Denken, aber nie in freundschaftlicher Sympathie getrennt“ (180). Mit Bernhard Shaw beispielsweise hatte er „Auseinandersetzungen über fast jeden Gegenstand in der Welt gehabt, und wir standen stets auf entgegengesetzten Seiten, und zwar ohne Leidenschaft und Animosität“ (243). Er musste damit leben, dass seine Kritiker zwar verstehen konnten, was er nicht liebte, jedoch nicht imstande waren nachzuvollziehen, was er liebte (279).

Chesterton stimuliert mich im eigenen Schreiben und in meiner Arbeit. Ich habe das Buch während einem Seminartag in den Pausen hervorgeholt und neue Ideen getankt. „Er lebte nicht in den Büchern, die er schreiben hatte. Er lebte in den Büchern, die er nicht geschrieben hatte.“ (298) Da soll mir einer sagen, dass Bücher tot seien!