Iain H. Murray. The Life of Martyn Lloyd-Jones. The Banner of Truth Trust, 2013. 496 Seiten. 20 USD.
Die verkürzte Version des Klassikers
Die zweibändige Biografie von Ian H. Murray über Martin Lloyd-Jones (Bd 1. 1898-1939, Bd. 2 1939-1981) gilt als unübertroffen. Sie ist allerdings mit knapp 1300 sehr voluminös. Murrays Anliegen mit der verkürzten Version – es sind vor allem Zitate herausgestrichen worden – ist es, einer neuen Generation den Zugang zum grossen Prediger und Evangelisten des 20. Jahrhunderts zu erschliessen (xi). Es ist zu fragen, ob ein Biograf, der dem Leben des Beschriebenen persönlich so nahe stand, die objektive Distanz für diese Aufgabe hat. Vielleicht ist diese Annahme einer „objektiven Distanz“ gar nicht nötig. Murray macht nie einen Hehl aus seiner Bewunderung, auch wenn diese sehr nüchtern und sachlich daherkommt. Er scheut sich nicht, Krisen deutlich und ausführlich zu schreiben. Der nicht-englische Leser sei zudem gewarnt. Es handelt sich hier nicht um ein flüssiges, leicht lesbares Buch. Für einen solchen Band muss man sich Zeit nehmen. Ich brauchte mehrere Wochen für den Durchgang. Im Rückblick zeichne ich einige Eindrücke auf.
Frühe Jugend
Zwei Begebenheiten aus seiner Jugend seien erwähnt: Martyn erfuhr durch den insdiskreten Grossvater, dass die Eltern in schwerer Geldnot waren. Nach dem Brand des elterlichen Gutshauses kam der Vater finanziell nicht wieder auf die Beine, so dass er verkaufen und zuerst in Kanada und später in London Arbeit suchen musste. Sein Sohn Martyn begleitete ihn auf diesem Gang. Sowohl das Wissen um die Nöte der Eltern als auch die verzweifelte Suche nach Arbeit lasteten schwer auf den Schultern des Kindes bzw. Jugendlichen. „Ich werde nie die Entmutigung und Depression vergessen.“ (24)
Allgemein-Mediziner
Nicht erstaunlich sind der Wissensdurst und die Begabung des späteren Predigers, der zuerst Arzt wurde. Seine ausgezeichneten Zensuren sicherten ihm einen Platz im renommierten St. Bartholomew’s Hospital in London. Lloyd-Jones kann nicht richtig verstanden werden, wenn man in ihm nicht zuerst den „Doktor“ sieht. Lloyd-Jones durchlief die gesamte Ausbildung und wurde von Kapazitäten nachgenommen. Dies diente offensichtlich als Gottes Zurüstung für seinen späteren Dienst. „Es war immer seine erste Liebe, ein Allgemeinarzt zu werden.“ (39)
Bekehrung und Berufung
Seiner Bekehrung folgte die lebensverändernde Entscheidung zum Predigerdienst. Im Rückblick spricht er (anlässlich einer Predigt über 1Joh 2,17) von Abscheu gegen sich selbst, wenn er an die vielen vergeudeten Stunden zurückdachte, die mit blosser Diskussion und Argumentation zugebracht wurden (49).
Erste Etappe in Wales
Die ersten 15 Jahre des Dienstes in einer Kleinstadt in Wales waren prägende, fruchtbare Jahre. Gott erweckte durch seinen Geist die Gemeinde, in der Lloy-Jones wirkte. Unvergesslich bleibt mir die Schilderung, dass Fabrikarbeiter abends direkt in ihren Übergewändern in die Gemeinde gingen. Es gab Gebetsversammlungen, die bis zu drei Stunden dauerten – ohne dass die Beteiligten dies bemerkt hätten. Eine Wahrsagerin, welche die Leute beobachtete, die zur Gemeinde strömten, ging – neugierig geworden – auch an diesen Ort und wurde bekehrt. Lloyd-Jones veranstaltete zudem regelmässige Treffen, an denen Fragen gestellt werden konnten. Die Fragerunden fanden zwar in seiner Anwesenheit statt, er griff jedoch nur sporadisch ein, um Fragen zu stellen und zusammenzufassen. Eindrücklich ist die realistische Selbstbetrachtung des Predigers. Er wusste, dass er sich selbst, seinen Geist und Körper, gut kennenlernen musste, um seine Kräfte abzuschätzen und danach seinen Tagesablauf einzurichten.
Es ging nicht immer bergauf
Nach diesem überaus gesegneten und fruchtbaren Dienst folgten schwere Jahre in der Hauptstadt Grossbritanniens. Die Kriegszeit brachte nicht nur einen Mitgliederschwund der Gemeinde mit sich. Die Bombardierung Londons beschädigte das Gemeindegebäude; Lloyd-Jones war oft getrennt von seiner Familie, die ausserhalb Londons wohnte; die Spenden brachen drastisch ein, was eine ebenso deutliche Lohnkürzung zur Folge hatte. Gemeinde und Leitung waren zwar mit einem sehr begabten Prediger gesegnet gewesen, in der Form jedoch erstarrt. Lloyd-Jones sehnte sich nach Wales zurück, blieb seiner Aufgabe aber treu.
Tätigkeiten über die Gemeinde hinaus
Beeindruckend ist die Tätigkeit von Lloyd-Jones über seine eigene Ortsgemeinde, die Westminster Chapel, hinaus. Er baute regelmässige Konferenzen auf; er predigte oft in der christlichen Studentenverbindung; er half beim Aufbau einer umfangreichen Bibliothek mit Puritaner-Werken mit. Er baute einen Dienst an Männern auf, indem er regelmässig Treffen abhielt. Hunderte von Predigern wurden so auf eine informelle Art und Weise geistlich weitergebracht. Das vielleicht wichtigste Engagement war jedoch der Predigtdienst, den er im ganzen Land wahrnahm. Er besuchte auch unter der Woche Gemeinden und predigte vor ganz kleinem Publikum. Auf diese Weise war er vertraut mit dem geistlichen Zustand der Gemeinden des Landes.
Das hehre Ziel der evangelikalen Vereinigung
Ein höchst aufschlussreiches Kapitel seines Lebens war das Bemühen von Lloyd-Jones, parallel zum ökumenischen Aufbruch der 1960er-Jahre den von Gott geschenkten Aufbruch zu nützen, um sich für eine Vereinigung von evangelikalen Freikirchen einzusetzen. Sein Vorhaben scheiterte und führte zu schmerzlichen Spannungen u. a. mit John Stott. Eine wichtige Lektion: Lloyd-Jones akzeptierte das Scheitern. Er führte seinen Dienst in der Ortsgemeinde unbeirrt fort. Er stand zu seinen Überzeugungen. Murray spart an dieser nicht mit feiner Kritik und merkt an, dass Lloyd-Jones zu wenig kommuniziert habe.
Der jahrzehntelange Dienst in Westminster
Bleibend in Erinnerung und durch die vielen online gestellten und in zahlreichen Bänden verschriftlichten Predigten heute zugänglich bleibt der Predigtdienst von Lloyd-Jones. Er predigte über Jahre durch einzelne Bibelbücher und Buchteile. Seine Serien über die Bergpredigt, die Johannesbriefe und den Epheserbrief sind sehr bekannt geworden. Der Doktor predigte immer zweimal, einmal morgens für die Gemeinde und einmal abends mit einem evangelistischen Schwerpunkt. Jede Predigt stellte das Evangelium ins Zentrum. Dabei ging es Lloyd-Jones nicht nur um Bemerkungen zu einzelnen Versen, sondern um die systematische Einbettung in die Heilsgeschichte und biblische Lehre. Der Predigstil war unaufgeregt, tiefgründig und kontinuierlich. Die Predigt zog Menschen allen Alters, sozialen Schichten und unterschiedlichen Nationen an. Viele junge Leute, gerade auch Studenten, nahmen an den Gottesdiensten teil. Unzählige Diener in Gottes Reich wurden prägend und bleibend durch diese Predigten gesegnet.
Bis ins hohe Alter
1968 beendete Llloyd-Jones seinen Dienst in der Westminster Chapel. Anlass dafür war eine schwere Erkrankung und Operation. In dieser Schwächung sah er deutlich das Zeichen für die Beendigung seiner Amtszeit. Er nutzte die über zehn Jahre, die ihm blieben, um seine Manuskripte sorgfältig zu überarbeiten. Als Kenner der Kirchen- und insbesondere Erweckungsgeschichte war ihm bewusst, dass ein geistlicher Aufbruch stets mit Lesen verbunden war. Er verbrachte Zeit mit seiner Familie und hinterliess auch bei seinen Enkeln einen bleibenden Eindruck. Bis fast ins letzte Lebensjahr predigte er regelmässig im ganzen Land, wie gewohnt auch in kleinen Gemeinden.
Fazit
Lloyd-Jones vertiefte meine Liebe für das textauslegende Predigen, unter Berücksichtigung der biblischen Systematik. Er setzte dem Gift der therapeutischen Verkündigung eine durch grosse Leidenschaft und Treue geprägte Verkündigung entgegen. Er verzichtete auf jeden Schnickschnack. Lloyd-Jones war überzeugt, dass es den Christen selbst an Kraft fehlte. Wenn diese Kraft zurückkehrte, würde die Gemeinde von selbst andere Menschen anziehen. Aus der Lektüre dieses Buches ist mein Gebet für einen neuen Aufbruch unter Männern, die Gottes Wort lesen und leben, entstanden.