»Daher, mein lieber Bruder, lerne Christus, und zwar den gekreuzigten, lerne ihm zu singen und an Dir selbst verzweifelnd zu ihm zu sprechen: du, Herr Jesus, bist meine Gerechtigkeit, ich aber bin deine Sünde; du hast das Meine auf dich genommen und mir das Deine gegeben; du hast angenommen, was du nicht warst, und mir gegeben, was ich nicht war. Hüte Dich, dass Du niemals nach einer so großen Reinheit trachtest, dass Du Dir nicht als Sünder erscheinen oder gar kein Sünder sein willst. Denn Christus wohnt nur in Sündern. Denn deshalb ist er vom Himmel herniedergestiegen, wo er in Gerechten wohnte, damit er auch in Sündern wohnte. Diese seine Liebe erwäge immer wieder bei Dir, und Du wirst seinen überaus süßen Trost sehen. Denn wenn wir durch unsere Bemühungen und Trübsale zur Ruhe des Gewissens kommen müssten: wozu wäre er denn gestorben? Deshalb wirst Du nur in ihm, durch getroste Verzweiflung an Dir und Deinen Werken, Frieden finden. Überdies wirst Du von ihm lernen, dass er, gleichwie er Dich angenommen und Deine Sünden zu den seinen gemacht hat, auch seine Gerechtigkeit zu der Deinen gemacht hat. Das heißt: Du musst Dich nicht selbst sündlos machen, Du darfst und sollst an Dir selbst verzweifeln, weil Du auf die alleinige Gerechtigkeit Christi vertrauen darfst und darin Frieden findest. Er nimmt Deine Sünde auf sich und schenkt dir seine Gerechtigkeit.«
»Wenn du ein Prediger der Gnade bist, predige nicht eine erdichtete Gnade, sondern eine echte! Wenn es eine echte Gnade ist, dann soll/kann sie auch eine echte Sünde wegnehmen, nicht bloß eine erdichtete. Sei also ein Sünder und sündige tapfer (pecca fortiter), aber noch tapferer glaube und freue dich in Christus, der der Sieger über Sünde, Tod und Welt ist! Bete tapfer, auch wenn du ein noch so großer Sünder bist!«
Brief an Philipp Melanchthon vom 1.8.1521; WA, Briefwechsel 2, Nr. 424, hier entnommen