Buchbesprechung: Die moderne Wissenschaft und der alte Glaube

Herman Bavinck. De wetenschap der H. Godgeleerdheid. G. Ph. Zalsman: Kampen, 1883. Kostenloser Online-Download (niederländisch).

Den Stier bei den Hörnern gepackt

Die Antrittsrede in Kampen, welche Bavinck 1883 als 29-jähriger, frisch gewählter Professor für Dogmatik gehalten hat,  markiert sein lebenslanges Bemühen, Wissenschaft (Moderne) und Theologie (alter Glaube) zusammen zu bringen. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen deren Auseinandertreiben. Schon am Anfang seiner 40-jährigen akademischen Tätigkeit packte er „den Stier bei den Hörnern“. (So kommentiert der Biograph Bremmer diese Rede, siehe R. H. Bremmer, Herman Bavinck en zijn tijdgenoten, J. H. Kok: Kampen, 1966, S. 46+47.) Er machte auf zentrale Probleme der Theologie seiner Zeit aufmerksam und skizzierte gleichzeitig seine Absicht, die Reformierte Theologie wieder zu etablieren.  Bavinck steigt bei seiner Antrittsrede mit dem Statement seines Leidener Lehrers Rauwenhoff ein, der für die vollständige Säkularisierung der Theologie plädiert hatte. Diese Entwicklung habe einst mit der Enteignung der Kirchengüter begonnen und konzentriere sich jetzt auf die Inhalte. Sie ende erst dann, wenn Gott und Religion vollständig säkularisiert seien. Damit, entgegnet Bavinck, werde der Mensch erneut „ohne Gott“ und „ohne Hoffnung in der Welt“ (vgl. Eph 2,12) zurückgelassen. Es gehe daher nicht an, auch nur teilweise mit diesem Strom  zu schwimmen. Nein, Theologie müsse auf eigenem Terrain erhalten und betrieben werden. Die Aufgabe einer theologischen Ausbildungsstätte sei Heiligung, nicht Säkularisierung. Bavinck geht dann in drei Schritten vom Prinzip der Theologie zu ihrem Inhalt und von dort zu ihrem Ziel.

Zum Prinzip der Theologie

Der Begriff der Theologie stamme von den Griechen, sei also nicht der Heiligen Schrift selbst entnommen. Sie sei auch nicht von Anfang an eine selbständige Wissenschaft gewesen. Bavinck geht zurück in die Heilsgeschichte des Alten und Neuen Testaments. In den Jahrhunderten vor Christus sei alles auf Christus hin vorbereitet worden. Christus stelle den Wendepunkt der Zeit dar. Nach abgeschlossener Niederschrift von Gottes Wort habe der Geist die Fülle des Christus in den Glaubenden zur Anwendung gebracht. Die Theologie als Wissenschaft habe sich seit dem zweiten Jahrhundert nach Christus organisch und allmählich zu entwickeln begonnen. Die Bibel sei „principium“ der Theologie, der alles Wissen entstamme. „Jede echte Theologie, die den Namen verdient, entspringt der Heiligen Schrift unter der Leitung des Geistes und ist auf ihren Grund gebaut.“ (11) Was die Natur dem Naturforscher, das sei die Bibel dem Theologen. Während das Prinzip der "theologia naturalis" in der Schöpfung liege, würden deren Wahrheiten durch die Heilige Schrift überprüft und beglaubigt. Das "principium essendi" der Theologie sei Gott selbst. Daher sei Theologie Reflexion jener Erkenntnis, die Gott beschloss seinen Geschöpfen zu vermitteln. Zunächst habe der Rationalismus die Vernunft an die Stelle oder zumindest auf die gleiche Stufe neben die Heilige Schrift gestellt. Bald verdrängt durch den Pantheismus, die Gott mit der Welt gleich setze, dominiere nun Schleiermachers Theologie die ganze Theologen-Zunft. Das Gefühl sei Sitz und Quelle allen religiösen Wissens. Darin, so gesteht Bavinck zu, stecke ein wahres Element. Neben dem "principium externum", nämlich der Heiligen Schrift, gebe es auch ein "principium internum", den Heiligen Geist. Ohne den Heiligen Geist als der Lehrer der Kirche könne kein Theologe richtig unterrichten. Dieses Bekenntnis habe für manche einen unwissenschaftlichen Beiklang. Allerdings basiere jede Wissenschaft auf ihren Annahmen, die sie ohne Beweise annehme. Nicht Vordenken, sondern Nachdenken, das sei der Platz der Geschöpfe. Weder Physik noch Mathematik wären  möglich gewesen, wenn die Sätze, auf deren nicht beweisbarer Basis sie errichtet wurden, nicht als gültig vorausgesetzt worden wären. Gleichermassen gelte für den Glauben der Satz, dass die Heilige Schrift ausreichende Quelle des Wissens der Theologie sei.

Die Inhalte der Theologie

flössen also von Gott her. Seit einiger Zeit decke sich die Theologie aber nicht mehr mit ihren wahren Inhalten. Sie sei zur Religionswissenschaft mutiert und habe nicht mehr Gott als Objekt, sondern die Religion als solche. Diese werde als interessantes historisches Phänomen studiert und bezwecke nichts anderes, als die Theologie insgesamt durch die Kenntnis der verschiedenen Religionen aller Völker und aller Zeiten zu ersetzen. Das Christentum sei so seines absoluten Charakters beraubt. Die Lehre der Evolution werde auf die Religion angewandt, was bedeutet, dass sie sich immer höher entwickle. Theologie verkomme zur Anthropologie, Gott als Idealbild, Bild des Menschen und damit Götze.

Einzig legitimer Inhalt der Theologie dürfe aber nur das sein, was Gott von sich offenbare. Die zeitgenössische Theologie sei eine Art Religionsphilosophie, die aus der Entfernung die Kirche betrachte. Das mache die Theologen selbstgefällig und stolz. Sie entfremde sie der Kirche. Theologie sage aber nichts anderes als die Kirche selbst in ihrer höchsten, schönsten, reichsten Offenbarung. Es gebe keine inhaltliche, sondern nur eine graduelle Unterschiede zwischen Theologie und Kirche. Natürlich zeige die Theologie nicht Gott, wie er in sich selbst ist, in seiner Tiefe, seinem unergründlichen Wesen, sondern nur so weit wie er sich in Natur und Gnade entschieden habe zu offenbaren. Was würden wir anders als durch Offenbarung von ihm wissen können? Unsere Theologie sei ectypisch (abbildlich), nicht archetypisch (ursprünglich). Die ewigen unsichtbaren Dinge würden im Angesicht Christi offenbart. Das sei der wahre Durst nach Wissen. Wer das fühle, sei wirklich Theologe (29).

Gott sei somit das einzige Objekt der Theologie. Alles andere sei in Beziehung zu ihm aufgezeichnet und an seinen Platz verwiesen. Dass Theologie nur durch das Auge des Glaubens wahrgenommen werde, sei kein Argument gegen, sondern für den Adel der Wissenschaft. „Von Gott selbst geht der Drang nach Wissen aus. Er ist derjenige, der unsere Herzen durstig macht nach dem lebendigen Gott. Er selbst will durch uns bewundert, gesehen, erkannt und geliebt ein. Er erneuert uns nach seinem göttlichen Ebenbild, auch nach dem Bild der Kenntnis, die er von sich selbst hat." (33) Die Theologie erhalte einen Ehrenplatz unter den Wissenschaften. Sie habe wie andere Wissenschaften ihr eigenes Prinzip, ihr klar identifizierbares Objekt, welches nichts anderes als Gott selbst, der Schöpfer und Erhalter aller Dinge sei. Die Besinnung auf Gott sei gleichzeitig die Besinnung auf den wahren Menschen.

Den dritten Teil, die Formulierung des Ziels der Theologie,

beginnt Bavinck mit einer Feststellung. Die Theologie habe für viele einfache Gemeindemitglieder einen „bösen Geruch“ entwickelt. Sie werde eingesetzt, um sich gegenseitig zu bekämpfen, nicht aber um den allerheiligsten Glauben zu verteidigen. Die Frage entstehe: Warum wird die einfache Wahrheit in ein System gedrückt, das Leben tötet? Bavinck benützt ein anschauliches Bild: Gott gebe uns in keinem Bereich fertige Scheiben geschnittenes Brot, sondern das Getreide, das wir zuerst verarbeiten müssten, um dann Brot daraus zu backen. Auch im geistlichen Leben serviere Gott keine fertigen Gerichte. Wir müssten sie im Schweisse unseres Angesichts zubereiten. Der Mensch solle Gott in seinen Gedanken folgen. Der Gebrauch der Vernunft sei also nicht zu verachten. Er sei willkommenes und geschätztes Werkzeug, um die Wahrheiten der Heiligen Schrift zu erklären, zu vergleichen und zu erschliessen. „Christentum ist die Versöhnung des ganzen Menschen mit Gott, nicht nur seines Herzens und Gewissens, aber auch seines Verständnisses und seiner Vernunft.“ (38)