Alfried Längle. Sinnvoll leben. Residenz-Verlag: St. Pölten/Salzburg, 2007. 134 Seiten. 18 Euro.
Eine anwendungsorientierte Einführung in die Existenzanalyse (PEA)
Alfried Längle, Arzt und Psychotherapeut, ist Begründer der existenzanalytischen Schule.
Die Entwicklung der PEA markiert die personale Wende in der Existenzanalyse, durch die subjektives Erleben, Emotionen, personale Prozesse vor, während und nach dem Existenzvollzug sowie die Biographie in den Mittelpunkt existenzanalytischer Psychotherapie rückten. Dadurch wurde das von (Viktor) Frankl als zentral für die Existenz angesehene Sinntheorem (Sinn, Logotherapie) den personalen Prozessen zeitlich nachgeordnet. (Eintrag von spektrum.de)
Die 134-seitige Einführung ist als anwendungsorientierte Einführung in die Logotherapie konzipiert und umgesetzt worden. Im Mittelpunkt steht, wie es der Titel zum Ausdruck bringt, die Frage nach dem sinnvollen Leben. Das stellt natürlich die Frage nach einer Beschreibung des Sinnbegriffs (S. 62):
Der Sinnbegriff und die drei Hauptstrassen des Sinns
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Sinnvoll leben heisst, die Aufgabe, die gerade ansteht, zu erfüllen.
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Sinn kann nicht gegeben werden, er wird erkannt, persönlich gefunden.
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Was als Sinn in der Welt wahrgenommen wird, ist eine Möglichkeit zwischen den Zeilen der Wirklichkeit.
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Sinn verweist auf einen grösseren Zusammenhang, in dem ich mich verstehe.
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Sinn stellt eine Herausforderung dar, den Kurs aufzunehmen, der sich im Heute abzeichnet.
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Sinn muss nicht ‚Sinn für alle Zeiten‘ sein, das Sinnganze entsteht Schritt für Schritt.
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Sinn wird nicht ausgedacht, sondern ganzheitlich gefühlt.
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Sinn kann von jedem Menschen mit jedem Glauben, Intellekt und Alter gefunden werden.
Längle definiert – von Frankl her – drei Hauptstrassen des Sinns: Erlebniswerte (Natur, Geschaffenes, Begegnung), schöpferische Werte (kreativ in die Welt hineinwirkend) und Einstellungswerte. (49-51) Mit letztem ist gemeint: „Der Mensch ist seinem Schicksal nie gänzlich ausgeliefert. Auch in unausweichlichen Schicksals-Situationen hat er immer noch die Freiheit, seine Einstellung dazu auszuwählen.“ (57) Dies ist ein wesentliches Element der Menschenwürde. Voraussetzung für eine sinnvolle Wahl ist ein ‚Wozu‘ (27).
Existenzanalyse und Religion
Die Existenzanalyse grenzt sich gegenüber Frankls Logotherapie ausdrücklich darin ab, dass sie sich auf den ausserreligiösen Bereich beschränkt (44, 53). Dementsprechend wird auf die existenzielle („Wir müssen auswählen, mit dem Herzen abwägen, fühlen, was mir wichtig ist“) und auf die situative Dimension („in jeder Situation sehen, was Gewicht hat“, 45) fokussiert. Die normative Ebene fehlt nicht nur, sie wird ausdrücklich abgelehnt – in sich eine normative Aussage. So wird zum Beispiel von der Schuld einer Frau, die sich in ausserehelichen Affären verstrickt hat, gesprochen, die sie „vor ihrem Mann und vor sich selbst“ hat (72).
Die Sinnfrage wird eng mit Beziehung verknüpft – Beziehung zu sich selbst, einem Menschen, einer Sache, einem Grösseren (77). Die grundsätzliche Orientierung ist bleibt die Person selbst. „Folge deinem Gespür, unbeirrt.“ (35) Aus einer theistischen Sicht lässt sich dazu sagen: Wenn ein personaler Gott aus dem Bezugsrahmen ausgeschlossen oder seine Existenz offen gelassen wird, muss ein Referenzpunkt als Ersatz gewählt werden. Der Mensch bleibt letztlich auf sich selbst geworfen. Auch der Sinn von Leid – der im Unterschied zu vielen anderen Konzepten integriert ist – bleibt immanent. „Im Leiden einen Sinn zu finden ist die höchste Form der Transformation.“ (57) Verantwortung wird verstanden als Antwort auf den jeweiligen Sinn, die in Resonanz mit dem höchsten Wert steht (106).
Wohltuend anders
Im Buch finden sich eine Menge bedenkenswerter Aussagen: Gefühle sind Hinweisschilder – ein wichtiges Korrektiv zur Ich-Kultur (36); Verbindlichkeit, Ernsthaftigkeit und Hingabe an ein Unternehmen zählen vor Spektakulärem (51); skeptische oder idealistische Wirklichkeitskonzeptionen werden abgelehnt – das Leben kann „nur in der Realität“ gelebt werden (57); es wird therapeutische Bescheidenheit gefordert (60); das Leben wird als Antwort-geben definiert (74); die Wirklichkeit einer Welt, die „nicht mehr heil“ ist, wird integriert (76); ein Recht auf Erfolg wird in Abrede gestellt (85) und die Erfolgsfixierung(auch im privaten Bereich) als „narzisstische Selbstüberschätzung“ kritisch hinterfragt (95).
Besonders hilfreich ist das Kapitel über Erfolg. Erfolg kann nur angebahnt werden. Wie er eintritt, bleibt letztes Endes verborgen (85) .Eine ungesunde Fixierung auf den Wunsch unter Verlust des Ziels bringt einLeeregefühl hervor (89). Bescheidenheit wirkt entlastend (97).
Was mich als Theologen besonders freut, ist die Ansprache des Themas Vergänglichkeit im letzten Kapitel. „Verdrängen wir den Tod, verflacht die Einmaligkeit des Lebens.“ (114) Es stellt sich die Frage, ob wir ganz da sind, zum Beispiel bei unseren Liebsten. Als Theologe wage ich da dem Verbot zum Trotz den normativen Satz: Die wirkliche Freude im Jetzt findet sich erst durch die Perspektive, die über das Diesseits hinausgeht.
Fazit und Empfehlung
Der Text wird immer wieder durch Aphorismen und Fragen unterbrochen. Einige Beispiele:
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Welche Sichtweise bringt mich weiter? Welche Sichtweise schränkt mich ein? (24)
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In welchen Lebensbereichen trägt mich – angesichts der Konsequenzen meines Handelns – das Gefühl der Gewissheit, das Richtige zu tun? (31)
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Wenn ein Gefühl stimmt: Könnten wir das aushalten? Was würde real passieren? (38)
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Was würde ich in meinem Leben zu tun versuchen, auch wenn ich wüsste, dass ich vielleicht scheitern werde? Was ist in meinem Leben jetzt wirklich wichtig – und was davon werde ich auch in 10 Jahren noch als wichtig empfinden? (46)
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Angenommen, Sie werden Ihr Ziel nicht erreichen; warum könnte es sich dennoch oder gerade deshalb – gelohnt haben? (94)
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Wofür/Für wen mache ich das eigentlich? (104)
Das Buch ist übersichtlich und ansprechend gestaltet. Die Randnotizen halfen beim Verdichten. Eine ausgewählte Literaturliste regt zum weiteren Lesen an. Das Buch gehört zur Grundausrüstung in Ausbildungen für Führungskräfte.