Herman Bavinck. Jack Vanden Bort (trans.) Herman Bavinck’s Foundations of Psychology. Calvin College: Grand Rapids, 1981.
In der Besprechung wird der erste Teil des Buches übersprungen. Bavinck beleuchtet unterschiedliche Zugänge zur Psychologie und gibt einen Abriss der Geschichte der Psychologie, wobei er nicht im 19. Jahrhundert, sondern bei den Griechen beginnt.
Hintergrund des Buches
Eine für den Leser des 21. Jahrhunderts fremdartig anmutende Ausführung betrifft Bavincks Lehre von den Fakultäten, wie er sie in den „Prinzipien der Psychologie“ entfaltet. Er setzt sich intensiv mit den „Leben der Seele“ auseinander (41). Jack Vanden Bort, englischer Übersetzer der im Todesjahr Bavincks (1921) erschienenen, von Bavincks Nachfolger in Amsterdam, Valentijn Hepp, überarbeiteten Auflage „Beginselen der psychologie“, zeigt in seinem Vorwort die Entstehungsgeschichte des Werks auf. Die „Prinzipien der Psychologie“ erschienen mitten in Bavincks theologischem Schaffen, nämlich der Herausgabe der Reformierten Dogmatik. Die erste Auflage der Dogmatik erschien zwischen 1895 und 1901, die „Prinzipien der Psychologie“ 1897. Nach Vanden Bort müssen drei Faktoren für das Studium des Buches berücksichtigt werden: Erstens der regelmässige Auftritt Bavincks an Treffen des Reformierten Schulverbands. Er hatte das Anliegen für eine Psychologie, die zur christlichen Weltanschauung und Erziehung passte. Zweitens war die Jahrhundertwende von einer Welle der Psychologie erfasst worden. Dilthey meinte 1894, dass die Psychologie die Grundlage der Humanwissenschaften darstelle (vi). Drittens hatte Bavinck in seiner Dogmatik nicht den Platz, die menschliche Natur umfassender zu beschreiben. Deshalb lagerte er einen Teil davon in die „Prinzipien der Psychologie“ aus. Vanden Born verweist auf einen Brief von Bavinck an Kuyper, datiert vom 20.9.1897: „The doctrine of man is incomplete. Therefore, in a couple of months I shall publish a small, separate work: Beginselen der psychologie. The copy is ready and the first proofs have been set.” (vii)
Bavinck und die Fakultätenlehre
Die Fakultätenpsychologie ging von einer Anzahl angeborener Fakultäten, das heisst Aktivitäten der Seele aus, welche die mentale Konstitution eines Menschen bestimmen. Während sie von Neothomisten im 19. Jahrhundert befürwortet wurde, lehnte die zeitgenössische Psychologie um die Wende zum 20. Jahrhundert sie als metaphysisch und vage ab. Die Seele verfügt nach diesem Grundrahmen über verschiedene Kräfte, die zusammenwirken. Bavinck schreibt, dass die Fakultätenlehre für die Bildung deshalb hoch relevant sei, weil die unterschiedlichen Fähigkeiten entwickelt werden könnten (42). Vanden Born schreibt Bavinck in diesem Zusammenhang einen „milden Psychologismus“ zu. Bavinck scheint tatsächlich vom grundlegenden Stellenwert der Psychologie überzeugt gewesen zu sein. Er schreibt, dass kein Dogma ohne die Psychologie konstruiert werden könne (57). Allerdings relativiert dies Bavinck später in einem Aufsatz über die Richtungen der Psychologie. Psychologie könne zwar Vorgänge beschreiben, jedoch nie den normativen Wert noch den Ursprung derselben erklären. Vanden Bort weist darauf hin, dass Bavincks Aufsatz „Der Sieg der Seele“ (1916) einer Widerlegung der Fakultätenlehre nahe gekommen sei. Anscheinend hatte sich Bavincks Überzeugung zwischen 1897 und 1916 verschoben.
Trotz dieser Einschränkung ist Bavinck zeitlebens aufmerksamer Beobachter der Entwicklungen innerhalb der Psychologie geblieben. Die Disziplin könne sich weder mit der reinen Beschreibung von Vorgängen noch mit einer einfachen Einordnung unter eine Fakultät (Wille, Verstand oder Gefühl) zufrieden geben (61). Er weist aber darauf hin, dass die einzeln analysierten Bereiche in engem Zusammenhang zueinander stehen, die einzelnen Fakultäten zusammengehen und in ihrer Einheit betrachtet werden müssten (62). Es sei immer das gleiche Subjekt, die unteilbare Person, die durch ihren Körper, ihre Seele, ihre Fakultäten leben, wissen und begehren könne (63).
Bavinck unterscheidet drei Hauptrichtungen innerhalb der Psychologie. Je nach philosophischem Unterbau betonen die einen das Primat des Verstandes, andere das des Gefühls, dritte das des Willens. Daraus ergab sich die intellektualistische, romantische bzw. voluntaristische Psychologie (47). Bavinck selbst sprach nur von zwei Fakultäten, die des Erkenntnisvermögens (kenvermogen; knowing faculty) und des Begehrens (begeervermogen; desiring faculty). Das Gefühl als unmittelbare Wahrnehmung gehört nach seiner Einteilung zum Erkenntnisvermögen und ist eine ihrer speziellen Aktivitäten (52). Die Emotionen und Leidenschaften reiht er unter der Fakultät des Wollens bzw. Begehrens ein (vgl. 132ff).
Die Fakultät des Erkennens
Bavinck beginnt mit der angeborenen Kenntnis (aangeboren kennis). So wie es universelle, unveränderliche Wahrheiten gibt, die der Erfahrung vorausgehen, Axiome, mit denen die Wissenschaften arbeiten (73), so wird der Mensch mit einem innewohnenden Potenzial geboren. Er verfügt beispielsweise über die Fähigkeit zu sehen (74). Dies führt Bavinck auf die Tatsache zurück, dass der Mensch Geschöpf ist. Der Mensch ist durch Gottes Offenbarung an die Erde und an die Schrift gebunden und lebt innerhalb vordefinierter Gegebenheiten.
Weiter setzt sich Bavinck mit der sinnlichen Wahrnehmung (gewaarwording) auseinander, der Schnittstelle des Menschen zur Aussenwelt. Er empfängt eine Menge an Impulsen, die über die Nerven zum Gehirn weitergeleitet werden (77). Das Gewahrwerden durch das Aufnehmen der Signale wird zur Wahrnehmung (waarneming, 78-80). Das Fundament hierfür wird nach Bavinck in den ersten Lebensjahren gelegt. Die Aufmerksamkeit führt dazu, einige der Wahrnehmungen stärker zu gewichten, während andere unberücksichtigt bleiben.
Dieser „Teppich“ von Wahrnehmungen, nach bestimmten Kriterien aussortiert, verdichtet sich zu unbewussten Repräsentationen (onbewuste voorstellingen). Analog zu Vorgängen im Körper (z. B. der Atmung) gibt es viele unbewusste Seelenaktivitäten. Die Seele assoziiert einzelne Repräsentationen (associatie der voorstellingen). So empfindet sie z. B. Schmerz, der alle anderen Wahrnehmungen in den Hintergrund rückt (81-83). Gedächtnis und Vorstellungsvermögen (geheugen en verbeelding) lassen bestimmte vergangene Repräsentationen zurückkehren (83). Das Gedächtnis verfügt über Kapazität zur Speicherung von Informationen (88), die Vorstellungskraft bildet aus bestehenden neue Repräsentationen (92).
Aus all diesen „niederen“ Kräften der Fakultät bilden sich die „höheren“ heraus. Der Mensch verfügt über Verständnis und Verstand (verstand en rede). Bavinck betont die Unterscheidung von Repräsentation und Konzeption, Beobachtung und Verständnis, Wahrnehmung und Denken (93). Die niederen und höheren Formen des Erkennens beeinflussen sich gegenseitig (94). Ein wesentlicher Schritt für das Erkennen ist die Weiterentwicklung von Repräsentationen zu Konzeptionen durch den Akt des Denkens. Während Bavinck Verständnis (verstand) der Welt der Phänomene zuordnet, dringt der Mensch mit dem Verstand (rede) zu den ewigen und unsichtbaren Dingen vor (98). Denken ist der Prozess von Konzeptbildung, Beurteilung und Schlussfolgerung. Oder anders ausgedrückt: Verständnis ist die Fähigkeit zu wissen, Verstand die Fähigkeit zu verstehen bzw. das Wissen zu interpretieren.
Die Menschen verfügen über weitere Fähigkeiten, nämlich um ästhetische Urteile zu bilden und Dinge durch ihr Gewissen zu beurteilen (geweten en schoonheidsbesef, 104). Sie urteilen nach Standards von Schönheit. Bavinck geht dabei von einem gemeinsamen, dem Menschen übergeordneten Sinn für Schönheit aus, ebenso wie er ihm aufgrund seines Gewissens die Fähigkeit Wahres und Gutes zu erkennen, also ethische Urteilskraft, zuspricht. Wahres definiert er als Übereinstimmung von Sein und Wissen, Gutes von Sein und Wollen.
Das Selbstbewusstsein (zelfbewustzijn) gehört zu den höchsten Fähigkeiten der Fakultät des Erkennens. Mit dem Denken bildet der Mensch reines Selbstbewusstsein. Das heisst er unterscheidet sich selbst von der Umgebung und einzelnen Vorgängen (107). Selbstbewusstsein ist weder eine Substanz noch eine Fakultät in sich, sondern eine Aktivität des höheren Erkennens. Sie erfolgt unmittelbar und intuitiv. Selbstkenntnis ist dagegen das Ergebnis von Studium, Untersuchung und Reflexion.
Mit der Sprache (taal) kann der Mensch sein Leben anderen mitteilen (109). Nur so wird es möglich, einem Dritten Einblick in die Gedankenwelt zu geben. Sprache ist darum der Hauptgrund, warum der Mensch zum denkenden Wesen wird (110). Die Sprache ist nicht angelegt, jedoch die Fähigkeit zu sprechen.
Die Fakultät des Begehrens
Analog zur Fakultät des Erkennens identifiziert Bavink in der zweiten Fakultät des Begehrens (begeervermogen) unterschiedliche, in einem engen Zusammenspiel stehende Kräfte. Er unterteilt sie wiederum in niedere und höhere Strebungen. Allen Kreaturen ist der Impuls des Wollens eigen (120). Der Instinkt (instinct) spielt vor allem bei den Tieren eine wichtige Rolle (125). Signale und Repräsentationen gehen ihm voraus. Das eigentliche Begehren (begeeren) kommt in unterschiedlicher Form daher, etwa als Kraft, Gewohnheit, Wunsch, Verlangen, Notwendigkeit, Leidenschaft, Appetit und Zorn (127). Es geht um ein gewohnheitsmässiges Begehren, das über den Instinkt hinausgeht und entweder innerlich angelegt ist oder mit der Zeit angeeignet wurde (128).
Eine nächste Stufe bilden die Emotionen und Leidenschaften (aandoeningen en hartstochten). Emotionen beeinflussen die Seele, wirken sich aber auch auf den Körper aus. Leidenschaften sind starke Wünsche, die eine Person beherrschen können. Die Aktivitäten sind miteinander verwandt und fliessen ineinander über (134). Die Seele gleicht aber nicht dem flüssigen Wachs, der in alle möglichen Zustände gedrückt werden kann (137). Bavinck betont, dass die Gefühle nicht von der Fakultät des Begehrens getrennt werden dürfen (139).
Der Wille (will) bildet die höchste Stufe und ist wichtigste Fähigkeit. Er wird nur dann aktiviert, wenn das Verständnis etwas als erstrebenswert taxiert hat (147). Oftmals entsteht ein Konflikt zwischen Kopf und Herz, zwischen Verstand und Antrieb. Motive werden in ganz kurzer Zeit abgewogen (148). Die Entscheidungen müssen von der Ausführung unterschieden werden, ebenso die Person von den Umständen. Die Essenz des Willens liegt darin, auf Dinge zuzusteuern, die sie als gut erkannt hat (149). Durch den Willen herrscht der Mensch über die tieferen Stufen der Fakultät des Begehrens. Der Mensch ist Herr in seiner Burg, Herr seiner Persönlichkeit.
Über die Willensfreiheit
Das letzte Kapitel des Buches über die Willensfreiheit enthält interessante Überlegungen. Bavinck unterscheidet drei verschiedene Definitionen, die alle mit der Macht über sich selbst zu tun haben (152):
- den Willen bzw. Nichtwillen etwas zu tun
- die Wahl zwischen verschiedenen Optionen
- die Wahl zwischen zwei oder mehreren Möglichkeiten, die einander entgegenstehen (ethische Entscheide). Wichtig ist insbesondere die Unterscheidung zwischen dem Willen, geistlich Gutes oder aber Gutes im ordentlichen Sinn des sozialen Lebens zu tun (153).
Die grosse Frage lautet: Wie steht die menschliche Willensfreiheit zu Gottes Vorherwissen und –bestimmung? Bavinck betont, dass die Reformation jeglichen Zwang ausschloss, nicht aber die Notwendigkeit (153). Von Gottes Seite aus bleibt alles geplant, sogar die Sünde, denn es entzieht sich nichts seiner Kontrolle (154). Es gibt zwei Denkschulen, welche die Spannung aufzulösen versuchen: Während die einen den freien Willen proklamieren, sehen die Deterministen eine ungebrochene Ursache-/Wirkungskette. Beide Seiten nehmen wichtige Argumente für sich in Anspruch (155). Wo steht Bavinck?
In der ihm typischen Weise gesteht er beiden Seiten legitime Anliegen zu. Der Wille des Menschen bleibt all seinen Motiven zum Trotz frei. Deutlich wird das z. B. am Verantwortungs-, Schuld- und Reuegefühl, das der Mensch zeigt. Im Wollen ist immer eine konkrete Person involviert, ebenso ihr Verständnis (156). Auf der anderen Seite tun die Vertreter eines freien Willens so, als ob es Freiheit gäbe alles zu tun, was der Wille auszuführen wünsche. Auf diese Weise wird der Wille von der Person und vom Kontext losgelöst, was pure Abstraktion und fern von der Realität ist (157). Wenn der Mensch sagen könnte „ich will es einfach“, dann würde er zum Schöpfer und Gott (158). Erziehung, Charakter und moralische Entwicklung wären so verunmöglicht. Bavinck sieht aber auch einen grossen Unterschied zwischen dem physischen, monistischen Determinismus des Islam und dem Prädestinationsverständnis von Calvin. Ersterer wird durch die alltägliche Erfahrung widerlegt: Die meisten Sünden geschehen nämlich wider besseres Wissen (159).
Der Theismus, so die Schlussfolgerung, der die Schöpfer-/Geschöpf-Unterscheidung aufrecht hält, löst das Problem des freien Willens nicht auf. Der Akt des Willens ist weder Syllogismus noch Metabolismus des Gehirns (160). Die Sphäre der ethischen Entscheidungen wird jedoch von eigenen, übergeordneten Gesetzen wie Schuld, Verantwortung, Verdienst, Bestrafung etc. regiert. Den Indeterminismus gibt es nicht, und der Mensch bleibt dennoch frei.
Die menschliche Freiheit ist deshalb weder willkürliche Entscheidung noch unumgänglicher Zwang, sondern eine „rationale Selbstfestlegung“ (160). Liebe ist beispielweise die höchste Form des Willens, eine ernsthafte, andauernde Richtung des Willens, Gutes anzusteuern. Oder in einem negativen Beispiel ausgedrückt: Der Alkoholiker weiss genau, dass es besser wäre nicht zu trinken; die Lust überwiegt alle anderen Motive. Die Entscheidung des Willens ist offenbar Resultat einer Reihe von Einsichten, Argumenten, Kräften, Wünschen und Leidenschaften (163). Der Mensch kann niemanden sonst beschuldigen, er bleibt das Subjekt seiner Taten.
Ohne die Sünde würden Begehren und Pflicht vollständig zusammenfallen. Freiheit und Verantwortung ist Teil der ethischen Natur des Menschen und kann weder mit physischer noch mit logischer Unmöglichkeit gleichgesetzt werden. Wer sündigt, ist ein Sklave der Sünde. Wo Gottes Ordnung übertreten wird, entstehen Schuldgefühle. Dem Menschen ist der Wille das wahrhaft Gute zu tun abhanden gekommen (164).
Bavincks Schluss des Buches ist bemerkenswert. Er sieht Allwissen, Prädestination und Vorauswissen als Basis und Grund der menschlichen Freiheit. Freiheit spiegle etwas von Souveränität wider. Es sei Teil der Imago Dei. Sogar die Freiheit, von der der Mensch Gebrauch mache um zu sündigen, sei immer noch ein Schatten seiner von Gott verliehenen Souveränität (165).