Eindruck nach der Lektüre der ersten Hälfte
Es brauchte eine Weile, bis ich die intensive Leseerfahrung in Worte fassen konnte. Die erste Hälfte des 1200-Werks las ich umgeben von Wiesen, Wälder und Bergen im Urlaub. Für einmal war ich dankbar, dass ich den Wälzer nicht mitschleppen musste, sondern auch meinem Kindle-Gerät stets zur Hand hatte. So konnte ich schon mal während einem ausgedehnten Spaziergang innehalten und neben der herrlichen Herbstlandschaft eine ausgiebige geistliche Mahlzeit zu mir nehmen. Ich pflichte J. I. Packer bei, der John Frame in die Reihe bedeutender Presbyterianer einordnet und sie ihn als direkten Nachfolger in der Theologenabfolge Warfield – Vos – Machen – Van Til sieht. Packer ordnet ihn als Reformierten des linken Flügels ein. Als solcher habe er bislang zu wenig Beachtung erhalten, ja werde gar verkannt. Mit der Systematischen Theologie hat der 75-jährige Theologe sein Hauptwerk und gleichzeitig den Schlussstein seiner jahrzehntelangen Arbeit abgeliefert.
Besonders hilfreich neben dem „Analytical Outline“, an dem ich mich immer wieder orientieren konnte, empfand ich die präzisen Zusammenfassungen, wie ich sie auch aus anderen seiner Bücher kenne. Die Idee, am Kapitelende jeweils noch eine Anzahl Schlüsselverse zum Auswendiglernen zu platzieren, fand ich zudem sehr wertvoll. Frame ist – zumindest unter uns reformatorischen Theologen – durch seinen perspektivischen Ansatz berühmt geworden. In seiner Systematischen Theologie hält er nicht weniger als 110 Triaden (!) bereit. Er sieht diese Modellierung vor allem als didaktische Unterstützung an (siehe „Der perspektivische Ansatz von John M. Frame“). Den Einstieg in Frames Modell habe ich seinerzeit im kurzen “Perspectives on the Word of God – An Introduction to Christian Ethics” gefunden.
Die wichtigste Aufgabe des (systematischen) Theologen
Der erste grosse Augenöffner des Buches war damals Definition von Theologie. Sie ist die Anwendung von Gottes Wort in jeden Bereich des Lebens. Der systematische Theologe sieht sein Werk stets im aktiven Dienst in und an der Kirche. Sämtliche Definitionen und systematische Zusammenstellungen müssen sich an der Schrift messen. Systematische Theologie ist deshalb fortlaufende Exegese und Abbildung der Heilsgeschichte. So bleibt sie eine Studie von Gottes Offenbarung, nämlich der Schrift, und kann das von Gott autorisierte Lehramt für die Gemeinde wahrnehmen: Zum Glauben an Christus zu rufen. Frame stellt bekümmert fest, dass auch die evangelikale Theologie einen schrittweisen Anpassungsprozess an die säkularisierte akademische Welt vorgenommen habe. Der einzelne Theologe leiste einen Beitrag zur Forschung, darin bestrebt, einen originären oder gar originiellen Beitrag leisten zu können. Dies geschieht jedoch weitgehend entkoppelt von der Gemeinde Jesu. Frame ruft zu einer erneuten, tiefen Auseinandersetzung mit Gottes Wort auf, deren Leitfrage lautet: Woher nehme ich diesen oder jenen Gedanken? Damit spricht sich Frame nicht generell gegen Dogmengeschichte aus. In seinem Werk demonstriert er eindrücklich, was er damit meint. Seine Kapitel sind zur Hauptsache eine Auseinandersetzung mit dem biblischen Text. Gezielt macht er hier und da Hinweise auf wichtige Argumente und Auseinandersetzungen aus der Kirchengeschichte. Unter „Die Hauptaufgabe des Theologen“ habe ich Frame im Wortlaut zitiert. Frame war mir hierin grosse Ermutigung, weiterhin die ganze Schrift fortlaufend zu studieren.
Hauptidee: Gottes Herrschaft
Um ein solch umfassendes Werk würdigen zu können, ist es wichtig sich mit seiner Hauptidee bekannt zu machen. Viele Theologen, so Frame, schrieben ihre Systematische Theologie um eine grundsätzliche Idee herum, z. B. Luther zur Rechtfertigung und Schleiermacher zu den Gefühlen. Frame wählte bewusst das Thema LORDSHIP als übergeordneten Rahmen. Dies ist direkt mit seinem Namen „Jahwe“ bzw. seiner Umschreibung „Herr“ verbunden, der über 7000-mal genannt wird. Als locus classicus nennt Frame 2. Mose 3,14-16. Wiederholt begegnen wir der Formulierung, dass die Menschen erkennen sollen, dass ER der HERR ist. Der Mensch will jedoch seine Knie vor niemand anderem beugen als vor sich selbst. Der HERR übt dem zum Trotz seine souveräne Herrschaft über alles Geschaffene in der Form eines Bundes aus. Die Menschen sind seine Diener, die ihm als Gesetzgeber Gehorsam schulden. Gerade das erste Gebot verbietet uns, diesen Herrschaftsanspruch niemand anderem zu gewähren.
Wichtige Modelle
Frame stellt diese Grundsatzüberlegungen in Form einer Triade dar. Gott übt a) mit seiner Macht über Natur und Geschichte Kontrolle (control) aus; b) als oberster Interpret seiner selbst und des von ihm geschaffenen Universums verfügt er über Autorität (authority). Durch sein Handeln in der von ihm geschaffenen Universums ist er c) an und in der Schöpfung präsent (presence). Er bewertet sämtliche Vorgänge.
Frame verbindet dies mit drei Perspektiven der Erkenntnis (Epistemologie): Erkenntnis ist gleichzeitig a) eine Anwendung von Gottes Normen (normative Dimension), b) das Verstehen der Fakten von Gottes Schöpfung und Vorsehung (situative Dimension) und c) dem Gebrauch von unseren Gott-gegebenen kognitiven Fähigkeiten (existenzielle Dimension).
Der christliche Glaube bietet eine einzigartige Sicht auf Welt und Leben. Es gehört zu Frames Basis-Werkzeugkasten (bereits in seinem 1987 erschienenen Buch „The Doctrine of the Knowledge of God“), diese Zusammenhänge zu verstehen und auch die Verzerrungen einzuordnen. Gottes Kontrolle und Autorität im oben beschriebenen Sinn kann ersetzt werden durch eine unbiblische Transzendenz, die Gottes Präsenz leugnet (= Irrationalismus). Seine Präsenz in der Schöpfung kann ersetzt werden durch eine rein immanente Kontrolle und Autorität (= Rationalismus). Oder anders ausgedrückt: Wer Gottes Transzendenz leugnet, muss die Kontrolle und Autorität in die endliche Welt verlagern (Gottesersatz). Wer die Präsenz Gottes in der Schöpfung leugnet, muss annehmen, dass er abwesend ist.
Ein weiteres Modell betrifft die Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf. Frame übernahm dies von seinem Lehrer Cornelius van Til. Gottes Schöpfung ist sein einmaliges Handeln, durch das er aus dem Nichts schafft und alles gemäss seinem Willen anordnet. Gott kann nie mit seiner Welt identisch sein, weil er sonst seinen Status als Schöpfer leugnen würde. Umgekehrt kann die Welt niemals Gott werden. Es gibt auch keine dritte Kategorie.
Die Entwicklung der biblischen Geschichte sieht Frame ebenfalls entlang einer Triade. Sie ist eine Geschichte göttlich-menschlicher Bündnisse (normativ), zweitens eine Erzählung der Fortschritte von Gottes Königreich (situativ) und schliesslich eine Genealogie der Familie Gottes (existenziell).
Beispiel: Gottes moralische Eigenschaften
Wie Frame die beiden Wortfelder von Güte und Heiligkeit aufgrund biblischer Belege entwickelt, soll hier beispielhaft dargestellt werden.
Wortfeld “Güte”
Güte |
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Gen 50,20; Num 10,29; Deut 30,5; Jak 1,17
Ps 34,8-10 Ps 84,11; 85,12; 103,5; Mt 7,11 |
Liebe |
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Joh 3,16; Eph 5,25 + Offb 1,5; Jes 62,3 + Hebr 11,6 |
Gnade |
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2Mose 34,6
5Mose 9,4-6 Joh 1,14-17 Apg 11,23 Eph 2,10; Röm 12,3 |
Liebe des Bundes |
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1Chr 16,34 etc.
5Mose 6,5 2Sam 22,26 Ps 36 |
Erbarmen |
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z. B. Neh 9,17 |
Wortfeld Heiligkeit
Gerechtigkeit |
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5Mose 32,4; Ps 145,17
2Mose 20 Obadja 15; Spr 26,27 Ps 9,8 1Sam 12,7; Jes 46,13 Ps 34,15 Ps 72,1-4 etc. |
Eifer-sucht |
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Hhl 8,6
2Mose 20,4-6 Hes 39,25; Jes 42,8 |
Hass |
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3Mose 20,23; 5Mose 25,16; Ps 5,5; 11,5
Eph 2,3 Mal 1,3 + Röm 9,13 |
Zorn |
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4Mose 1,53 etc.
Röm 1,18 Hebr 10,31 Ps 103,8, 2Petr 3,9 |
Heiligkeit |
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2Mose 3,5f, 19,23
2Mose 26,33; Sach 2,12, Jes 6,3 2Mose 15,11; 1Sam 2,2; Hebr 12,28 Hos 11,9 |
Fazit
Frame legt ein durchdachtes, reifes Alterswerk vor. An einzelnen Stellen drückt ein starker Reflex angesichts von neueren Kontroversen innerhalb der Fakultät der Westminster Seminary Fakultät (Stichwort „Escondido Theology“) durch. Frame beeilt sich zu betonen, dass die göttliche Autorität nicht auf die Dinge des Heils beschränkt blieben (Pos. 3436). Wer sich noch näher kundig machen will, was Frame unter Reformierter Theologie versteht, dem empfehle ich seinen Aufsatz „Introduction to the Reformed Faith“.