Von der Einführung zum Original
Nach einer amüsanten und tiefgründigen biografischen Einweisung von G. K. Chesterton und dem kurzen, gut strukturierten Einstieg in die Philosophie des Aquinaten durch Peter Kreeft wagte ich mich ans Original. Ich las den ersten von drei Bänden von Thomas von Aquins Hauptwerk „Summe der Theologie“, übersetzt von Bernhard Berhart. Obwohl der Band von einer Einführung und von ausführlichen Erklärungen eingerahmt wird, wollte ich einfach den Text lesen und lies diese Erläuterungen vorerst weg.
Aufbau des ersten Teils
Thomas von Aquin stellt eine kurze Behandlung der Stellung der Theologie als Wissenschaft voran. Insbesondere geht es auch um die Beziehung von Philosophie und Theologie.
Dann beginnt er mit der Gotteslehre. Da alles von Gott ausgeht und auf ihn ausgerichtet ist, muss er der erste Gegenstand der Betrachtung sein. Am Anfang dieses Teils stehen die berühmten fünf Wege (Gottesbeweise). Ich staunte, auf welch knappem Raum der Autor diese Beweisführung vornimmt (2. Untersuchung, S. 17-26).
Nach den Eigenschaften Gottes, wozu von Aquin Einfachheit, Vollkommenheit, Güte, Unendlichkeit, Immanenz, Ewigkeit und Einheit zählt, folgen Überlegungen zur Gotteserkenntnis, zu Gottes Namen, aber auch zu intellektuellen und moralischen Eigenschaften sowie zur Dreieinigkeit.
Der Gotteslehre schliessen sich Engel- und Dämonenlehre, die Lehre über den Menschen und die Schöpfung an.
10 Dinge, die ich gelernt habe
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Kein dunkles Mittelalter: Zunächst wurde mein eigenes Vorverständnis des Mittelalters (erneut) korrigiert. Bisweilen kommt einem der Gedanke auf, dass die Menschen früher unwissend gewesen sein mussten. Wer Thomas von Aquin liest, kommt zu einem anderen Schluss. Auch wenn er über die Hirnforschung des 21. Jahrhunderts noch nichts wusste, stellte er beachtliche Überlegungen auf.
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Neues Vokabular: Eine Menge „eingedeutschter“ Ausdrücke – die glücklicherweise oft mit dem lateinischen Original an der Seite auftauchten – stellten mich vor die Herausforderung, nicht einfach darüber hinwegzulesen. Manche Ausdrücke wie Verstehbilder, Möge- und Wirkstand, Selbstrage oder Wesungsform gehören zu den Grundbegriffen des Autors.
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Biblische Bezüge: Ich fand eine beachtliche Menge an Aussagen, die mit der Lehre der Bibel in einer Linie stehen. Darunter waren immer wieder Bezüge aus der Schrift eingeflossen. Ich habe mir gar eine Übersicht von Bibelstellen angelegt, die im Rahmen der Gotteslehre zitiert werden.
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Arbeiten an einer Weltsicht: Das gesamte Schreiben ist vom enormen Bemühen gekennzeichnet, eine kohärente Sicht auf Welt und Leben zu entwickeln. Es handelt sich auf keinen Fall um ein achtloses „Abnicken“ alter Philosophen.
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Verwirrende Stellen: Es gab Teile, die mich verwirrten. Dass von Aquin die Engel nächst dem göttlichen Wesen sieht und diese zudem hierarchisch aufteilt, erachte ich als reine Spekulation. Ebenso bekundete ich Mühe, seine Überlegungen zum Aufbau des Menschen bzw. den Zusammenhängen der einzelnen Schichten nachzuvollziehen.
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Punktgenaue Zusammenfassungen: Immer wieder finden sich präzise, kurze Feststellungen, welche ein Thema abrunden und auf den Punkt bringen.
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Das konsequente Formulieren von Einwänden: Von Aquin geht von Fragestellungen aus. Er handelt zuerst das Thema ab, indem er mehrere Einwände ausformuliert. Davon kann ich eine Menge lernen. Anschliessend antwortet von Aquin zuerst, indem er den eigenen Standpunkt herleitet und anschliessend die Einwände widerlegt.
- Syllogismen: So verachtet die „scholastische Methodik“ sein mag; man weiss dabei stets, wo man steht und warum der Autor zu seinen Schlussfolgerungen kommt.
- Der häufige Bezug auf Kirchenväter: Ob Augustinus, Boethius oder Bonaventura – der Autor ist mit den Kirchenvätern vertraut. Seine Theologie ist eine Fortführung nicht nur von Aristoteles, sondern eine eigenständige Ausarbeitung und Weiterentwicklung der Väter.
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Ein Buch für Anfänger: Etwas beschämt las ich die Vorrede. Ähnlich wie Johannes Calvin in der Vorrede zur Institutio möchte der Autor „den Inhalt der christlichen Religion auf eine Weise darstellen, die der Heranbildung von Anfängern entspricht“.
10 eindrückliche Stellen
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Glaube und Vernunft: „Gleichwohl aber macht die heilige Wissenschaft von der menschlichen Vernunft Gebrauch, zwar nicht um den Glauben zu beweisen, denn dadurch fiele das Verdienst des Glaubens dahin… Da nämlich die Gnade die Natur nicht aufhebt, sondern vollendet, soll füglich die natürliche Vernunft dem Glauben dienen, so wie auch die natürliche Neigung des Willens der Liebe willfahrt.“ (16)
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Gott und das Übel in der Welt (Einwand): „Wenn es also Gott gäbe, so würde man kein Übel finden. Man begegnet aber Üblem in der Welt. Also gibt es Gott nicht.“ (22)
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Transzendenz und Immanenz: „Gott steht über allen Dingen kraft der Erhabenheit seiner Natur, und doch ist er in allen Dingen da … als Verursacher des Seins von ihnen allen.“ (66)
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Nochmals – Gott und das Übel: „Da Gott nichts in höherem Grade will als seine Gutheit, der das Übel der Schuld entgegengesetzt ist, und er von dem Guten sonst das eine mehr als das andere will, so will er das Übel der Schuld keineswegs; es verträgt sich aber mit ihm, dass er manchmal das Übel der natürlichen Mangelhaftigkeit (defectus) und der Strafe will. (160)
- Primär- und Sekundärursachen: „Zweierlei gehört zur Vorsehung: nämlich das Gewese eines Zweckbezugs in den Dingen, auf welche sie sich verstreckt, und die Durchführung dieser Ordnung; diese heisst Regierung (gubernatio). Was ersteres angeht, so versieht Gott alles unmittelbar. Denn in seinem Verstand trägt er allem, auch dem Allergeringsten Rechnung; so hat er allen Ursachen, welchen Wirkungen auch immer er sie vorreihte, die Wirkkraft gegeben, diese Wirkungen hervorzubringen. … Was aber das zweite angeht, so gibt es in der göttlichen Vorsehung Mittelstellungen.“ (173/74)
- Ewige Schöpfung? „Die Welt ist nicht notwendig immer gewesen, da sie aus dem göttlichen Willen hervorgegangen ist; obgleich es möglich war, wenn Gott gewollt hätte; jenes hat auch keiner je beweisen können.“ (204)
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Ebenbild Gottes im Menschen: „Es ist aber offenbar, dass sich beim Menschen eine Ähnlichkeit von Gott findet, welche sich von Gott wie vom Musterbild herleitet; sie ist indes nicht eine Ähnlichkeit der Gleiche nach, weil das Musterbild unendlich weit über ein solches Nachgebilde hinaussteht.“ (311)
- Wunder: „Die Benennung Wunder nimmt man von Bewunderung, Bewunderung aber erhebt sich, wenn die Wirkung handgreiflich, die Ursache aber verborgen ist.“ (370)
- Zufall und Schicksal: „So ergibt sich die Antwort, dass die beischaftlichen Geschehnisse in natürlichen sowohl wie in menschlichen Dingen auf irgend eine im Voraus ordnende Ursache zurückzuleiten sind, welche die göttliche Vorsehung ist.“ (395)
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Definition von Lehren: „Der Lehrende verursacht das Wissen im Lernenden, indem er ihn aus dem Mögestand in die Wirkheit hereinführt.“ (400)
Fazit
Die konsequente Ausrichtung auf Gott als Ursache und Ziel des gesamten Seins fasziniert. Thomas von Aquin atmet das wieder, was uns so sehr fehlt: Dass wir uns an Gott ausrichten (anstatt uns Gott nach dem aktuellen Stand unseres Ichs „zurechtzustutzen“).
Nach einer Weile musste ich mir ehrlich eingestehen, dass ein Durchgang nicht genügen würde, um mit den Gedanken vertraut zu werden. Ich begann mir anzuzeichnen, an welchen Stellen ich den Gedanken nicht folgen konnte. So ist meine Ausgabe mit Fragezeichen an den Seitenrändern gepflastert.
Insgeheim hoffte ich, dass ich durch die aufmerksame Lektüre mir ein besseres Bild davon machen könnte, in welcher Rolle von Aquin den menschlichen Verstand sieht. Ich fand zwar einige Stellen, die jedoch für sich genommen zu keinem Schluss führen können. Ich muss dieses Unterfangen bei der weiteren Lektüre fortführen.
Der Band schliesst mit Gotteslob: „Der über alles gebenedeit ist / GOTT / In Ewigkeit. Amen.“