Buchbesprechung: Ein Hirnchirurg erzählt vom Heilen, Hoffen und Scheitern

Henry Marsh. Um Leben und Tod: Ein Hirnchirurg erzählt vom Heilen, Hoffen und Scheitern. DVA: München, 2015. 352 Seiten. 20 Euro.

Ehrlich und selbstkritisch

Ich arbeite als Berater für Führungskräfte in einer Klinikgruppe. Es war jedoch mehr als professionelles Interesse, das mich das Werk innert zwei Tagen lesen liess. „Hat es schreckliche Szenen drin?“ wollte mein Sohnemann wissen. Ja, der Lebensbericht enthält präzise, nüchterne Beschreibungen von schweren Eingriffen am Gehirn, eigene Erwartungen, Bilder und Befürchtungen mit eingeschlossen. Doch der überaus ehrliche, selbstkritische Stil liess mich in keinem Moment eine Gier nach „Gruselstorys“ aufkommen.

Berufung auf Umwegen

Als mehrfacher Vater war es beruhigend zu erfahren, dass Marsh über Umwege seine Berufung entdeckte. Nachdem er bereits eine geisteswissenschaftliche Laufbahn in Oxford eingeschlagen hatte, unterbrach er das Studium, um als Altenpfleger in einem Heim für demente Männer zu arbeiten. Während dieser Auszeit erst reifte der Entschluss, ein Medizinstudium zu beginnen. Er schaffte den Einstieg an einem unbekannten College.

Zweierlei Krankheitsbilder

Die Kapitel sind nach Krankheitsbildern benannt, wobei neben „Aneurysma“ auch die „Hybris“ (Überheblichkeit) auftaucht. Der Autor macht weder einen Hehl daraus, dass die langen Präsenzzeiten mit dazu beitrugen, dass seine erste Ehe in  Brüche ging, noch verschweigt er, dass eine gescheiterte OP unter Musikbegleitung ihn blitzartig vom stolzen Ross herunterkommen liess.

Professionelle Nähe

Dass der Autor auch die eigenen gesundheitlichen Rückschläge, die schwere Hirnoperation seines dreijährigen Sohnes und den qualvollen Tod seiner Mutter nicht ausblendet, ist Teil seiner „professionellen Nähe“. Es liess ihn im Patientengespräch nahbar bleiben, gerade angesichts von Ohnmacht und Wut.

Lernen durch Fallbesprechung

Marsh nimmt den Leser wiederholt in den Besprechungsraum mit, in dem er am Anfang eines Arbeitstages Fallbesprechungen mit der Ärzteschaft durchführte. Er beschreibt anschaulich, dass eine aufmerksame Anamnese wichtig ist und nicht nur der Hirnscan zählt. Er verschweigt nicht, dass auch ein Arzt unwillkürlich ethisch Stellung zu einem Menschen nimmt (Patienten in fortgeschrittenem Alter, Umgang mit der Krankheit, Eigenverschulden).

Unbehagen über staatliche Bürokratie

An einigen Stellen befiel mich grosses Unbehagen: Marsh schildert, wie die staatliche Bürokratie irre Blüten treibt. Da wird „Kundenorientierung“ gepredigt, das Tragen von Krawatten angeordnet, Abteilungen für Unternehmensentwicklung und Beschwerdemanagement aufgebaut. Gleichzeitig werden anonyme Bunker hingestellt, Patienten x-mal verschoben und der Zugriff auf Patientendaten erschwert.

Das Mysterium menschlichen Lebens

Marsh gibt unumwunden zu, dass ihm eine Hoffnung auf das Jenseits fehlt. Mit der gleichen Geradlinigkeit spricht er auch vom Geheimnisvollen des menschlichen Lebens. Seine Profession bezeichnet er als Handwerk, den Zugang zum komplexen Zentrum des Menschen erfüllte ihn wiederholt mit Staunen.

Empfehlung: Ein Buch für alle, die mit anderen Menschen arbeiten – nicht nur in Gesundheitsberufen. Zur Ergänzung empfehle ich den Lebensbericht eines anderen Neurochirurgen: "Begnadete Hände" von Ben Carson.