Buchbesprechung: Franz von Assisi

G. K. Chesterton. Der Heilige Franziskus von Assisi. Herder: Freiburg, 1959. 144 Seiten.

Ich erstand mir die antiquarische Ausgabe von Herder (1959). Unvergessen bleibt mir der Geruch des alten Papiers, kombiniert mit der herrlichen Aussicht von unserem Hausberg, wo ich einen Teil des Buches las. Das erste Bedenken wurde schon zu Beginn des Buches ausgeräumt. Chesterton liegt viel daran, Franz von Assisi nicht als geschichtsloses ethisches Ideal zu beschreiben. Ja, er beklagt sogar, dass der grösste Teil der Geschichtsschreibung an der gleichen Krankheit wie der Journalismus leide (19): Es wird nur ein kleiner Teil der gesamten Geschichte erzählt. „Wir erfahren von Reformatoren, ohne zu wissen, was sie zu reformieren hatten, von Rebellen, ohne eine Ahnung von dem zu haben, wogegen sie rebellierten, von Gedenksteinen, welche mit keinerlei Gedenken im Zusammenhang stehen, und von der Wiederherstellung von Dingen, die dem Anschein nach nie vorher existiert haben.“ (22) Nach einer längeren Debatte über die Historizität des Mannes kommt Chesterton zum Schluss: „Ich bevorzugte daher von den beiden Verfahren dasjenige, zuerst zu erweisen, dass jedermann ausser ein Narr von Geburt klar einsehen muss, dass Franz von Assisi ein ganz reales, historisches, menschliches Wesen war.“ (127)

Ein Meister der Umkehrungen

Wer Chesterton etwas kennt, der weiss: Es ist mit vielen Paradoxien und Umkehrungen zu rechnen. Das Aussergewöhnliche wird bei ihm gewöhnlich, der Alltag aussergewöhnlich. So ist es keineswegs erstaunlich, dass er nach dem Einführungskapitel über die Geistesgeschichte des 13. Jahrhunderts zum Schluss kommt, dass wir es damals mit einer gereinigten Zeit zu tun hätten. „Für jemand, der Atmosphären zu beurteilen weiss, liegt etwas Klares und Lauteres in der Atmosphäre dieser rauhen und oft strengen Gesellschaft.“ Ich verband mit Franz von Assisi vor allem Pantheismus und Naturmythos. Doch Chesterton schrieb flugs: „Blumen und Sterne haben ihre erste Unschuld wieder erlangt. Feuer und Wasser werden würdig befunden, Bruder und Schwester eines Heiligen zu sein. Die Läuterung vom Heidentum ist endlich vollbracht. … Der Mensch hat den letzten Fetzen der Naturanbetung von seiner Seele gerissen und kann zur Natur zurückkehren.“ (33-34) Das 13. Jahrhundert sei darum „eine fortschrittliche Zeit“ gewesen (58).

Fünf interessante Vorfälle aus seinem Leben

  1. Vor den Bischof geführt und des Raubes am Eigentum seines Vaters, eines wohlhabenden Tuchhändlers bezichtigt (er wollte es für den Bau einer Kirche einsetzen), riss sich Franziskus seine eigenen Kleider vom Leib, warf sie dem Vater hin und ging fast nackt von dannen. Er liess das gesamte Erbe hinter sich. Als erstes machte er sich daran, eine Kirche neu aufzubauen. „Er selber ging Steine sammeln und bat alle Leute, die ihm begegneten, ihm Steine zu geben.“ (52)
  2. Mit zwölf Franziskanern brach Franziskus auf, um in Rom einen Franziskanerorden zu beantragen. „Er war vollkommen fähig, fünfzig Kaisern gegenüberzutreten, um für einen einzigen Vogel zu bitten. Er machte sich mit zwei Gefährten auf, um die mohammedanische Welt zu bekehren. Er machte sich mit elf Gefährten auf, um vom Papst die Errichtung einer neuen monastischen Welt zu verlangen.“ (97)
  3. Franziskus konnte einem Dieb nachlaufen, der seine Mütze gestohlen hatte, um ihm auch noch sein Gewand zu geben. „Die Note des heiligen Franziskus … hat etwas von liebenswürdigem Spott über den Eigentumsbegriff an und für sich, etwas von einer Hoffnung, den Feind durch Grossherzigkeit zu entwaffnen, von einem humorvollen Bewusstsein, die Weltlichen mit dem Unerwarteten zu verwirren, von der Freude, eine begeisterte Überzeugung bis ins logische Extrem zu treiben.“ (109)
  4. Seine Mission bei den Sarazenen: „Es gelang ihm, eine Zusammenkunft mit dem Sultan zu erreichen, und bei dieser Zusammenkunft erbot er sich offenbar, wie andere sagten, machte er sich sogar schon daran, sich zum Gottesurteil ins Feuer zu stürzen, während er die religiösen Lehrer der Moslems aufforderte, ein Gleiches zu tun.“ (115)
  5. Sein Tod: „Es ist, möchte man sagen, eine traurige Ironie, dass der heilige Franziskus, der sein ganzes Leben lang alle Menschen einig wünschte, inmitten zunehmender Uneinigkeit sterben musste. … Der Hauptpunkt war die Auslegung des Armutsgelübdes oder die Zurückweisung allen Besitzes.“ (134)

Fünf anregende Gedanken

  1. Eine hermeneutische Anleitung für das Erkunden von Figuren, die uns nicht so nahe stehen: „Er kann versuchen, das, was verstanden wird, zu benutzen, um das, was nicht verstanden wird, zu erklären.“ (11)
  2. Die Kunst des Wohlwollens: „Wenn man will, kann man sagen, dass der heilige Franziskus bei aller nackten und dürftigen Einfachheit seiner Lebensweise an einem einzigen Fetzen Luxus festhielt, an den höfischen Manieren.“ (87)
  3. Eintritt ohne finanzielle Hürden: „Da aber jemand Franziskaner werden konnte durch das blosse Versprechen, am Wegesrand Beeren zu essen oder eine Brotkruste aus der Küche zu erbetteln oder unter einer Hecke zu schlafen oder geduldig an der Türschwelle zu sitzen, wie es gerade der Zufall gab, so war kein wirtschaftlicher Grund dafür vorhanden, dass es nicht eine beliebige Anzahl solcher exzentrischer Enthusiasten innerhalb einer beliebig kurzen Frist geben sollte.“ (94)
  4. Franziskus steuerte immer gleich auf den Kern der Sache zu. „Er hatte die Fähigkeit, sich rückhaltlos offen zu geben und dabei doch mitten ins Herz zu treffen.“ (95-96)
  5. Zur Möglichkeit von Wundern: „Ich bin mir nie über die Natur des Rechts klar geworden, kraft dessen Historiker ganze Massen von Einzelheiten als definitiv wahr annahmen und dann doch plötzlich ihre Wahrhaftigkeit leugneten, wenn eine Einzelheit übernatürlich war. … Wenn es neun Scheite verbrennt, weil es also Gottes Wille ist, dann könnte es auch Gottes Wille sein, dass das zehnte unverbrannt bleibt.“ (122+125)

Drei irritierende Stellen

  • Franziskus liess seine Augen mit einem brennenden Holzscheit blenden: „Bruder Feuer, Gott hat dich schön und stark und nützlich gemacht; ich bitte dich, sei artig mit mir.“ (84)
  • Die Argumentation von Kardinal Paolo in Rom zugunsten des neuen Ordens: „Es ist vielleicht ein hartes Leben, aber schliesslich ist es das Leben, wie es im Evangelium offensichtlich als Ideal dargestellt wird.“ (98) Wirklich?
  • Die Erzählungen über die übernatürlichen Vorkommnisse seines Lebens: „Und es gab mehr und mehr des Übernatürlichen in seinem Leben, je mehr er sich dem Tode näherte. Dieses Moment des Übernatürlichen trennte ihn nicht vom Natürlichen; denn es war gerade das Wesentliche seiner Einstellung, dass es ihn mit dem Natürlichen noch vollkommener vereinte.“ (130)

Fazit

Die wichtigste Stelle des Buches bestand für mich aus den Ausführungen Chestertons über den Schlüssel zur franziskanischen Moral: „Es ist das höchste und heiligste der Paradoxe, dass der Mann welcher wirklich weiss, dass er seine Schulden nicht bezahlen kann, immer daran zahlt. Er wird immer zurückgeben, was er nicht zurückgeben kann, und was man nicht von ihm zurückerwartet.“ (72) Deshalb war seine Askese nicht Starrheit oder stoische Einfachheit, Selbstverleugnung oder Selbstbeherrschung. Es war – so Chesterton – Leidenschaft (73). Dem voraus war die Einsicht gegangen, dass die „ganze Welt an der Gnade Gottes wie an einem Harren hängt.“ (70) Er begann mit der „vorsichtigen Idee“ des Nichts, „mit dem dunklen Nichts seiner eigenen Verdienste“. Deshalb konnte er irdische Dinge so geniessen, wie sie wenige Menschen genossen haben (68). Ich wünsche mir eine grössere Position dieser Einsicht für mein Leben!

Für Franziskus lag das „Geheimnis der Zurückgewinnung natürlicher Freuden“ darin, „sie im Lichte einer übernatürlichen Freude zu sehen.“ (64) Das Geheimnis des Lebens überhaupt lag für ihn im Dienen und in der Unterordnung (63). „Franziskus war ein Mensch, der den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen wollte.“ (79) Dies zog andere Menschen an – ohne Zwang. „Niemand aber brauchte dem kleinen Franziskus in dem alten, braunen Rocke zu gehorchen, der es nicht selber wünschte.“ (93)

Was für uns „unvernünftig“ klingt, war für ihn selbstverständlich. „Er war von viel zu raschem und ungestümem Temperament, um sich auf seinem Sturmeslauf mit Hin- und Herüberlegen zu plagen, wenn er sich auch alle erdenklichen Selbstvorwürfe darüber machte, dass er nicht noch schneller lief.“ (103) „Bei all seinen Sprüngen ins Dunkle besass Franziskus eine ungewöhnliche Fähigkeit, immer wieder auf die Füsse zu fallen.“ (112) Diese Fähigkeit wünsche ich mir auch! Und noch etwas: „Wenn ein anderer grosser Mann eine Grammatik des Zustimmens schrieb, so könnte man von ihm ganz wohl sagen, dass er eine Grammatik des Empfangens, eine Grammatik der Dankbarkeit geschrieben habe. Er verstand die Lehre vom Danken bis in ihre letzten Tiefen, und ihre Tiefen sind ein bodenloser Abgrund.“ (141) Bei aller Irritation, eine zunehmende Dankbarkeit gegenüber meinem Erlöser – was könnte es Kostbareres geben? Chesterton bezeichnet Franziskus als einen „Jongleur de Dieu“ (60).