Zitat: Unter der Herrschaft des Zweifels

Wie ein überaus vernünftiger, sachkundiger Herr begleitete mich der Zweifel durch die folgenden zwei Jahrzehnte. Seine überlegen-erklärende Stimme mischte sich fortan in jede meiner inneren Angelegenheiten, um dass jede Situation gebieterisch zu erledigen. Ich merkte bald, dass der Zweifel mein Herr wurde und begann diesen kalten Vernünftling wie meine schädlichsten Feinde zu hassen. Denn seine aufdringliche Einrede hetzte mich aus jeglichem Frieden, machte mich ruhelos, unglücklich, arm und schwach, verstellte mir jeden Zugang zum wieder unbekannt gewordenen Gott, zerrüttete und verdarb mich. Und doch, sobald der hämische Klügling den Mund auftat, hörte ich ihm wieder – obschon gequält – aufmerksam zu und gab seiner korrekten Weisheit recht. Viele Male wollte ich von meinem Hausrecht Gebrauch machen und dem lästigen Aufdringling die Tür weisen – aber sein gewandtes, überlegenes Wesen hielt mich immer wieder davon ab. So richtete sich dieser je länger desto dreister wie der Herr des Hauses bei mir ein. Er verfügte einfach über alles mit seinem immer lächelnden, um sich greifenden Blick. Ja, er identifizierte sich schliesslich geradezu mit mir, legte sich mit mir auf das gleiche Bett, trug meine Kleider, ging in meinen Stiefeln, redete, ehe ich es hindern konnte, aus meinem Mund und bemächtigte sich sogar meiner Augen, sodass ich am Ende geradeso dreist-überlegen umherschaute wie er. Und dennoch wurden wir nie ganz eins, sondern blieben Freunde. Aber ich schmachtete wie ein Sklave unter seiner unumschränkten Herrschaft

Ernst Schultze-Binde. Fritz Binde. Biographie. Ein Anarchist wird Evangelist der Gebildeten. Linea-Verlag: Bad Wildbad, 2012. (38-39)