Sommerlektüre: Aufwachsen im Überwachungsstaat

Ruth Hoffmann. Stasi-Kinder: Aufwachsen im Überwachungsstaat. List: Berlin, 2012. 336 Seiten. 10 Euro (Tb).

Als Schweizer bin ich in einer komplett andersartigen Umgebung aufgewachsen. Durch eine Hochzeit in einem ehemaligen Erholungsheim der Staatssicherheit wurde ich angeregt, mich näher mit dem Thema zu beschäftigen. Es lässt sich vorab sagen: Das Buch wühlt auf! Da werden Kinder mit dem Gürtel geschlagen, weil sie in der Klasse Unterschriften gesammelt haben. Heranwachsende bekommen den Zorn und die Ohnmacht des Vaters zu spüren, weil sie sich mit den falschen Personen getroffen oder befreundet haben. Bettnässer werden mit Medikamenten zugedröhnt, weil sie nicht nach Plan funktionierten. Eltern verfassten zuhanden ihrer Vorgesetzten Berichte über die innere Entwicklung ihrer eigenen Kinder! Die Kontrolle der „Organe“ reichte bis in die intimsten Details des Privatlebens ihrer Mitglieder hinein.

Die Kinder von Stasi-Funktionären lebten in einer geschlossenen Gesellschaft. Die Überwacher wurden selbst überwacht. Die Dokumentation von 13 Geschichten steht als Mahnmal dafür, wie eine Ideologie Generationen prägen kann. Ich stellte mir während dem Lesen drei Fragen:
1. Wie konnten Menschen ihre Wirklichkeit neu definieren – selbst dann, wenn es offenbar zu Abweichungen in ihrem engsten Umfeld (Kinder, Ehepartner, Zonengrenze, Westsender) kam?
2. Wie äusserte sich der kindliche und jugendliche Widerstand? Wie verstärkte er sich?
3. Wie reagierten Eltern, Nachbarn und Arbeitskollegen auf den Widerstand der nachfolgenden Generation?

Auf diese Fragen wird reichlich Anschauungsunterricht geboten. Hoffmann stellt in einem Kapitel jeweils zwei bis drei Lebensverläufe bzw. -etappen nebeneinander dar. Dazwischen folgen kurze informative Kapitel. Jedes Kapitel steht unter einem Stichwort (gehorchen, erwachen, aufgeben, verraten, erkennen, zweifeln, widerstehen, funktionieren, suchen, verdrängen, abhauen, leben). Die Spannung wird so über das gesamte Buch hochgehalten. Die Autorin hat die verschiedenen Ausgangslagen ihrer Portraits sorgfältig ausgewählt, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten.

Zweifellos prägt das Aufwachsen in einer Umgebung, die einer Utopie – die Erlösung durch den Sozialismus – huldigte, bis heute Lebensgefühl und Alltag. Die DDR ist Bankrott gegangen, die Menschen leben heute noch. Die Aufarbeitung wird wohl noch lange andauern.