Zitat der Woche: Soziologische Umbrüche vor und nach der Reformation

Charles Taylor. Ein säkulares Zeitalter. Suhrkamp: Berlin, 2012. Euro 39,95 (Taschenbuch). 1301 Seiten.

Taylors religionssoziologische Studie betrachtet manche Entwicklung aus einer anderen Warte, als ich sie als reformierter Theologe vorgenommen hätte. Natürlich sind seine Beobachtungen zugleich Bewertungen, die von seiner Weltsicht abhängig sind.

Hier sind einige Ausschnitte zu vor- und nachreformatorischen Veränderungen.

Vom begrenzten Kosmos zum unbegrenzten Universum

Mit der Veränderung des Zeitbewusstseins ist ein Wandel unserer Vorstellung von der Welt, in der wir leben, verknüpft. Man könnte sagen, dass wir das Leben in einem Kosmos hinter uns gelassen haben und dazu übergegangen sind, uns von einem Universum einschliessen zu lassen. Das Wort ‚Kosmos‘ verwende ich für die von unserem Ahnen gehegte Vorstellung von der Gesamtheit des Existierenden, denn in dieser Vorstellung ist der Gedanke des geordneten Ganzen mitgemeint. … Doch das Universum näher sich dem Grenzenlosen; zumindest lassen sich seine Grenzen nicht ohne weiteres in der Zeit oder im Raum erfassen. Unser Planet und unser Sonnensystem gehören zu einer Galaxie, die ihrerseits nur eine der bisher ungezählt vielen Galaxien ist. Unsere Ursprünge reichen zurück in den Nebel der evolutionären Urzeit, so dass unklar wird, was wir als Anfang der Menschengeschichte mit ihren vielen unwiederbringlich verlorengegangenen Merkmalen gelten lassen können. (110-111)

Spätmittelalterliche Spiritualität des Todes

(Es gibt neu) einen Grund zur Angst vor dem Tod als Ende des Lebens und daher der Vervollständigung jenes Dossiers, mit dem wir uns dem Urteil stellen würden. … Die neue Individualität bringt eine neue Art von sozialer Bindung mit sich. Im Kreis der individuierenden Sorge um Tod und Urteil entsteht eine neue Form von Solidarität: die Fürbitte. Die Lebenden können für die Seelen der Toten bitten… Diese neue Spiritualität des Todes und des Gerichts … führte zur Öffnung einer immer breiter werdenden Kluft zwischen gewissen Eliten und der Masse der Gläubigen… (123-127)

Luthers These traf den neuralgischen Punkt seiner Zeit

(Luther traf mit seiner These von der Erlösung durch den Glauben) den neuralgischen Punkt seiner Zeit, nämlich jenes zentrale Anliegen und jene Angst, die das religiöse Leben vieler Laien bestimmte und den ganzen Ablassschwindel in Gang hielt: die Problematik des Gerichts, der Verdammnis und der Erlösung. (135)

Wie der Arminianismus den Calvinismus verdrängte

Das Gefühl, die Dinge stärker im Griff zu haben, erfasst auch die besonders Nachdenklichen und Frommen. So kommt es, dass der Arminianismus nach einer gewissen Zeit in allen calvinistischen Gesellschaften in Erscheinung tritt, um seinerseits ein Wiederaufleben orthodoxer Formen der Prädestinationslehre auszulösen und anschliessend gestärkt zurückzukehren. … Erstens wird das Ziel der Ordnung neu bestimmt, so dass es ausschliesslich um menschliches Gedeihen geht. Das Streben nach Ordnung wird nicht mehr als Nachfolge Gottes gesehen und erst recht nicht als ein Handeln, das zu Ehren Gottes vollzogen wird. Zweitens gilt die Fähigkeit zu diesem Streben nicht mehr als etwas, das wir von Gott empfangen, sondern als eine rein menschliche Fähigkeit. Doch infolge dieses doppelten Schritts in Richtung Immanenz entsteht eine neue Auffassung des menschlichen Gedeihens, die in mancher Hinsicht ohne Beispiel ist. (151)

Von der Entzauberung der Welt und dem (Gott) ausgrenzenden Humanismus

(Der Humanismus) ist durch Aktivismus, Uniformierung, Gleichmacherei und Rationalisierung sowie natürlich durch seine Feindseligkeit gegenüber Verzauberung und Gleichgewicht. … (Beispiel) Während der Wahnsinn früher als Hort der visionen und sogar der Heiligkeit aufgefasst werden konnte, gilt er jetzt in immer höherem Masse ausschliesslich als Frucht der Sünde. (156+155)

Die Entstehung der disziplinierenden Gesellschaft

(Franziskaner im Spätmittelalter) Es ist also gar nicht so überraschend, dass der Versuch, Christus an die Welt – die Welt der Laien, die bisher jeder Heiligkeit entbehrende Welt – heranzuführen, eine neue Betrachtungsweise dieser Welt mit sich bringt. (166)

(Die nachreformatorischen Versuche der katholischen wie der reformierten Kirche zur Zivilisierung der Gesellschaft) hatten fast immer eine religiöse Komponente. So wurde beispielsweise verlangt, dass man sich Predigten anhörte oder den Katechismus lernte. Wie hätte es auch anders sein können in einer Zivilisation, in der sich gutes Benehmen und Religion nicht trennen liessen? (182)

Das Ideal der Zivilität mit seiner Kernmetapher der Zähmung roher Natur beinhaltet schon … eine rekonstruktive, also auf Umgestaltung abzielende Einstellung zur eigenen Person. (197)

Der Zusammenhang zwischen persönlicher und bürgerlicher Erneuerung

Einerseits definierte die calvinistische Reformation den Weg zum wahren christlichen Gehorsam, andererseits schien sie aber zum wahren christlichen Gehorsam, andererseits schien sie aber auch eine Lösung für die gravierenden, ja erschreckenden sozialen Krisen dieser Zeit anzubieten. Eine überaus menschliche soziale Angst konnte zusammen mit dem Verlangen nach Erlösung und der Furcht vor Verdammnis bei den Gründen für das Bekenntnis zu einer Glaubenslehre mitspielen, die dem Gläubigen womöglich zu einer Wiedergeburt verhelfen und ausserdem vielleicht eine gefährliche Unordnung eindämmen würde.