Kolumne: Zwei Varianten der Pilgerreise

Eigentlich wüsste ich, wie mein Leben als Christ heute aussehen müsste. Es wird mir erzählt, wenn ich im Gottesdienst sitze; es wird mir empfohlen, wenn ich mich im Kirchenkaffee unterhalte; es tritt mir entgegen, wenn ich ein buntes christliches Magazin aufschlage. Die Vorstellung dominiert auch die boomende christliche Ratgeberliteratur. Und sie hallt mir in den Ohren, wenn ich verfolge, was sich fromme Lebensberatung und Seelsorge auf die Fahnen geschrieben haben.

Botschaft

Zweck

Bewahrung

Zweifle an allem (ausser an dir selbst)!

Damit hältst du dir alle Möglichkeiten offen.

Sonst wirst du einer dieser Super-Pseudo-Heiligen.

Entwickle deine Spiritualität!

Damit holst du dir emotional immer gerade das ab, was dir fehlt.

Sonst gerätst du in die Falle des Intellektualismus.

Zelebriere dein Unterwegssein!

Damit kannst du problemlos auf Nebenstrassen bleiben.

Sonst wird dein Christsein langweilig.

Sei begeistert für Jesus!

Damit sorgst du dafür, dass der Fun-Faktor hoch bleibt.

Sonst wird dein Leben zu ernst.

Gewinne Menschen für Jesus!

Damit ist für eine bunte Reisegesellschaft gesorgt.

Sonst wirst du abgelehnt.

Das Sahnehäubchen auf dieser multioptionalen, lustmaximierten Wohlfühlreise ist das Mantra „Gott liebt dich“.  Es mag etwas karikiert sein, wie ich es darstelle. Weil auch nicht alles verkehrt ist: Wir zweifeln, wir erleben emotionale Durststrecken, wir sind unterwegs zum himmlischen Ziel, wir wollen uns über Jesus freuen, wir wollen Menschen die beste Botschaft der Welt bringen.

Ich sehe mich unter meinen Mitreisenden um und entdecke Menschen, die an allem zweifeln (und auch betonen, dass dies voll ok sei), ständig auf der Suche nach dem nächsten Kitzel und Stimulus sind und andauernd den Fun-Faktor betonen. Es scheint mir fast, als gäben sich diese Menschen – und ich zähle mich auch immer wieder mal dazu – mit einer Lebenslüge zufrieden. Ich beobachte, dass das ICH immer grösser wird und der „Liebestank“ doch leer bleibt. Ich sehe Sehnsucht nach Anerkennung, gepaart mit Menschenfurcht, viel Diesseitigkeit und – das mag überraschen – wenig Verständnis für andere Lebenswege.

Dann lese ich ein Buch wie „Die Pilgerreise“. Der Autor lebte im 17. Jahrhundert. Er verbrachte Jahre im Gefängnis. Er musste seine grosse, Not leidende Familie zurücklassen, was ihm fast das Herz brach. Und ich lese eine ganz andere Botschaft. Er spricht über

das Ziel der Reise

Er ist dem Verderben entflohen und auf dem Weg in die himmlische Stadt.

die Sündenlast

Durch das Lesen der Bibel hat er erkannt, welche riesige Last der Sünde er mit sich schleppte; diese Last wog viel schwerer als die grössten Anfechtungen, die er nachher durchlebte.

die Gewissheit

Nicht der Zweifel dominierte seine Reise, sondern die Gewissheit über das Ziel und die Herrlichkeit des Retters.

die Trennungen

Er begegnete unterwegs zahlreichen Menschen; doch von vielen trennte er sich nach kurzer Zeit wieder.

die Verzweiflung und Zerknirschung

Diese Erfahrungen führten nicht zu frommer Überheblichkeit, sondern zur Verzweiflung über das eigene Versagen.

Diese Beschreibung passt viel besser zu meinem Alltag. Auf diese Weise werde ich auf die Gefahren und Schwierigkeiten meines Weges vorbereitet. Ich muss mich nicht in zwei Welten bewegen – einer Humor-Scheinwelt und einer harten Alltagswelt.