Buchbesprechung: Politologie aus christlicher Weltsicht

Hunter Baker.Political Thought: A Student's Guide (Reclaiming the Christian Intellectual Tradition). Crossway: Wheaton, 2012. 121 Seiten.

Christliches Denken in unterschiedlichen Disziplinen

Ich bin begeistert von der Grundidee dieser Crossway-Reihe, christliches Denken in verschiedenen Disziplinen neu aufleben zu lassen. Mit "aufleben lassen" meine ich: In die Ideen- und Geistesgeschichte zurückzublenden, sich des Bezugs zur christlichen Weltsicht zu versichern und mit anhand dieser Linien aktuelle Fragen zu adressieren. Mit diesem Buch habe ich das mir vertraute Gelände definitiv verlassen. Die ersten Seiten tönten sehr verheissungsvoll: Hunter, u. a. Verfasser eines Handbuchs zur höheren Bildung, gab das Geschriebene seiner Frau zu lesen. Diese versicherte ihm, erstmals den Zusammenhang zwischen Politologie und dem täglichen Leben erkannt zu haben.

Start mit Familiengeschichte

Baker zieht den Leser ab der ersten Seite des Hauptteils ins Geschehen. Er beschreibt nämlich zuerst die unterschiedlichen Familienkulturen der Sippe seiner Frau und dann seiner eigenen. Schon Aristoteles hatte die These aufgestellt, dass die Familie die breitere Struktur der Gesellschaft abbilde. Es geht um Fragen der Führung, Ordnung, Fairness, Debatten, um Restriktionen, Zwänge und Freiheiten. Die Familie des Autors lebte der Idee der „geordneten Freiheit“ nach. Jedes Familienmitglied verfolgte seine eigenen Interessen und verfügte über zahlreiche Spielräume; die Familie seiner Frau hingegen hing der Idee der Exzellenz, verbunden mit einer hohen Loyalität gegenüber der Gruppe (Familie) und dem Christentum, an. Dies führte zu einem hohen Grad an elterlicher Führung. Tatsächlich bestand eines der grössten politischen Probleme in der Frage, inwieweit politische Macht der elterlichen Autorität ähnelt. Bürger, so weit ist bald klar, sind bezüglich Führung und Zwang nicht einfach Kindern gleichzustellen.

Die wichtigsten Politphilosophen

begegnen einem nicht nur in der Politologie, sondern auch in manchen anderen Fachgebieten. Eine Unsicherheit, die das Lesen des kurzen Werks auslöst, ist die zügige, fast spielerische Einführung in wichtige Gedankengänge der drei Architekten des „contrat sociale“, nämlich Thomas Hobbes (Schwerpunkt: Ordnung), J.-J. Rousseau (Gleichheit) und John Locke (Freiheit). Ich kann nicht behaupten, alles verstanden zu haben. Also steht mir irgendwann noch die Aufgabe bevor, mich einem ausführlicheren Werk zu widmen. (Baker empfiehlt „The Roots of American Order“.) Zumindest die Grundfrage, nämlich wieviel persönlichen Freiraum zugunsten von Schutz des Staates abzugeben sei, blieb mir aus diesen Abschnitten präsent. Und natürlich dieser Satz: „Obwohl wir Politologie auf eine wissenschaftliche – oder zumindest – quasiwissenschaftliche – Disziplin studieren können, geht es hauptsächlich um moralische Entscheidungen.“ (Pos. 498)

Im zweiten Teil geht Hunter zu den einzelnen Konzepten zurück.

  1. Zuerst zur Ordnung. Ordnung allein genügt nicht, denn das Ziel von Ordnung ist ein gewisses Mass an Frieden. Dieser Friede geht weiter als die blosse Abwesenheit von Konflikten. Augustinus ging davon aus, dass das Herrschen des Menschen über den Menschen erst durch den Sündenfall notwendig geworden war (595).
  2. Dann zur Freiheit (freedom and liberty). Locke benannte als Hauptgrund, um ein politisches System überhaupt zu akzeptieren, die positiven Folgen von Freiheit und Eigentum. Auf amerikanische Verhältnisse übertragen bedeutet das für die einen, als Einzelpersonen der Wahrheit und dem Glück nachzustreben; für den anderen eher die Gewähr, die Früchte der eigenen Kreativität und Produktivität ernten zu können. Im zeitgenössischen Verständnis geht es aber eher um Freiheit um des Vergnügens willen (freedom for pleasure, 643). Pornografie ist ebenso ein Ausdruck dieser Freiheit wie die Redefreiheit oder künstlerische Entfaltung. Es geht also um die Erlaubnis (license) eigener Präferenzen unter Ausschluss aller anderen Überlegungen (680). Wir sind Meister unserer persönlichen Leben geworden, dafür inkonsequent in der Anwendung des Gedankens von Souveränität (697). Diese Zeilen tragen deutlich sozial-kritische Züge. Zum Glück, denn der biblische Bezug blieb ansonsten eher schmal.
  3. Drittens geht es um den Begriff der Gerechtigkeit. Hier sind wir natürlich sofort bei der Frage, inwiefern ein materieller Ausgleich unter den Menschen geschaffen werden soll, und welche Rolle der Staat hierbei zu spielen hat. Ein kollektivistischer Ansatz führt jedenfalls zur Umverteilung und damit zur Enteignung. Zentral ist die Gleichwertigkeit der Menschen vor dem Gesetz. Als erstes ordnendes Prinzip weist Baker auf die vertikale Gerechtigkeit, also diejenige vor Gott, dem Schöpfer, hin. Diese Überzeugung steht der säkular-pluralistischen entgegen. Die horizontale Gerechtigkeit führt geradewegs zur Frage von Bürgerrechten, wobei der Bezug zu Martin Luther King Jr. für einen US-Bürger der nächstliegende ist. (Ebenso auch die – interessante – Frage, inwieweit Erweckungen die horizontale Gerechtigkeit gestärkt haben.)

Bleibt zu fragen, wie gute Politik aussieht. Die schrecklichen Massaker in Rwanda oder Darfour führten die wichtige Rolle der Politik und vor allem deren prioritäre Aufgaben deutlich vor Augen. Der Staat hat dem Bösen Einhalt zu gebieten, auch durch Bestrafung. Christen unterstützen dies unter dem Aspekt der menschlichen Würde des Übeltäters (1135). „Gerechtigkeit ist das Resultat einer gestärkten moralischen Ordnung, welche die Freiheit des Menschen vor böswilliger Einwirkung schützt.“ (1152) In diesem Gebiet wird in unseren Ländern (noch) weitgehende Übereinstimmung erzielt. Doch zwei Fragen stellen sich in den Raum: Was ist mit Zwangshandlungen zu Lasten von Minderheiten, die sich der (demokratischen) Mehrheit beugen müssen? Sind Gesetze und Erlasse damit rechtens, weil sie von der Mehrheit bewilligt sind? Ebenso lässt sich fragen, inwieweit der Staat über die Rolle des Versorgers einnehmen soll. Führt eine solche Versorgung nicht zu schlechter Verwalterschaft und zu stabilisierter Armut? Solche Zusammenhänge sind nicht von der Hand zu weisen.

Fazit

Das Buch betrachte ich als gelungen. Der elegante Start gleicht dem ausgebauten Landplatz für Boote. Einmal auf See, beschleicht den Neuling doch ab und zu das Gefühl des Verlorenseins unter den vielen Namen. Man soll jedoch nicht zu viel von 120 Seiten erwarten. Insbesondere die Diskussion um den Freiheitsbegriff soll von Christen fundiert und engagiert geführt werden. Ein Drogenkonsument setzt mit seiner Lebensweise (und dem beanspruchten Freiraum) ein schlechtes Beispiel für andere (801). Ebenso aktuell ist die Frage, inwieweit ein unverantwortlicher Umgang mit Finanzen innerhalb eines Staates auf Kosten der nächsten Generationen verantwortbar ist. (Klare Antwort: Er ist es nicht!) Auf der persönlichen Ebene ruft Baker dazu auf, unsere Ämter mit den dazugehörigen Pflichten ernst zu nehmen; sei es als Kind in der Unterordnung, als Eltern oder Grosseltern in der versorgenden und steuernden Position der Familie; als Nachbar in Fürsorge und Rücksichtnahme; als Gemeindemitglied im Bemühen Gottes Reich auszubreiten; als Geschäftsmann in Ehrlichkeit und Geradheit.