Irritiert starrte ich auf den gross gewachsenen Jungen. In welch abschätzigem Ton er mit seiner Mutter sprach! Also gerade mit der Person, die am meisten in ihn investiert hatte. Von klein auf stellte sie ihm täglich Mahlzeiten hin, wusch seine Kleider, räumte ihm das Zimmer auf, half ihm bei den Hausaufgaben, setzte sich bei den Lehrern für ihn ein, ermöglichte ihm manchen (elektronischen) Bubentraum. Ja, sie nahm auch seine häufige geistige Abwesenheit in Kauf, wenn er online war. Sie weckte ihn nach halb durchwachten (weil durchzockten) Nächten auf, richtete ihm sein Mittagessen, trug ihm auch schon mal die Turntasche in die Schule nach. Und nun das! Er würdigte sie kaum mehr eines Blickes, blieb nächtelang weg. Die einzige sicht- und hörbare Reaktion kam von ihm, wenn seine Mutter einmal einen kleinen Teil ihres Engagements unabsichtlich unterliess. Dann hörte sie bittere Vorwürfe.
Erst als eine sehr erfahrene und weise Frau eine ähnliche Geschichte erzählte, verstand ich den Zusammenhang. Sie erzählte von Kindern, deren Eltern stets ihrer Bedürfnisbefriedigung gedient hatten. Sie waren die ärmsten Kreaturen auf dieser Welt. Die Kinder waren über Jahre buchstäblich auf diese Bedürfnisbefriedigung „abgerichtet“ worden. Vorauseilende Dienstfertigkeit der Eltern gegenüber den Kindern nenne ich dies. Die Eltern begaben sich sinnbildlich unter das Kind – aus welchen Gründen auch immer. Sie signalisierten: „Wir sind die Sklaven deiner Befriedigung.“ Der Junior brauchte – vor allem in den Anfangsjahren – nur einige Andeutungen zu machen, und die Ernährer rannten für ihn. So wurde ein Egosch… (entschuldige den Ausdruck) herangezüchtet. Die Mutter ist zu bemitleiden, klar. Doch noch arg büssen wird es der Jugendliche: Mit Langfristschäden in den Beziehungen. Wer will mit einem solchen Mann lange zusammenleben? Wie würde er reagieren, wenn die anderen einmal nicht nach seiner Pfeife tanzten? Wenn ihm das Leben einmal nicht so mitspielte, wie er es sich von klein auf gewohnt war?
Meine Gedanken schweifen ab und wandern in die Kirche. Haben wir uns auf der kollektiven Ebene nicht mit einem ganz ähnlichen Verhalten dieselben Probleme eingehandelt? Die Kirche wurde zum Bedürfnisstiller. Predigten dürfen nicht zu lange dauern und dürfen die Zuhörer nicht fordern. Keine zu steilen Botschaften. Immer schön artig loben und streicheln. Viele Angebote präsentieren, die eigentlich mit dem Kernauftrag der Kirche höchstens indirekt zusammenhängen. Mir kommen die Spielzeugbörsen und andere Veranstaltungen in den Sinn. Welchen inneren Abdruck muss der Refrain bei den Kirchensozialisierten wohl über kurz oder lang hinterlassen? Ihnen wird doch eingehämmert: „Es muss Spass machen. Es muss dich stimulieren. Es muss für dich etwas abfallen.“ Dieser Imperativ wird zum Bumerang, spätestens in der nächsten Generation. Denn wenn der Ernst des Lebens einmal anfängt und es etwas unangenehm wird, ja sogar wenn die übliche Stimulation ausbleibt, dann kehrt man dem Unternehmen Kirche den Rücken. Es gibt doch eine Vielzahl von Ersatzangeboten, nicht?
Die Asymmetrie der Bedürfnisbefriedigung nenne ich das. Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder, lehrte uns das 20. Jahrhundert. Die Konsumation vertreibt sie, behaupte ich im 21.