"Schweizer Kinder sind faul." Nicht nur einmal habe ich dieses Urteil von ausländischen Eltern und Lehrkräften gehört. Natürlich sprachen sie es nicht genau in diesen Worten aus, sondern verklausulierter und diskreter. Ich glaube, dass wir als Volk über die letzten Jahrzehnte so verwöhnt waren, dass wir viel von unserer geistigen Beweglichkeit und einem gesunden Sinn für harte Arbeit eingebüsst haben. Der dämpfende Aufruf erschallt von gesättigten Seelen: "Nur nicht zu viel machen. Nur wenn es Spass macht." Mittelmass, ja schlimmer noch, der Minimalismus regiert.
Wer meine Beiträge über Jahre liest, weiss, dass ich dieser Volksfaulheit nichts abgewinnen kann. Noch hässlicher empfinde ich das fromme Gewand dieser kollektiven Faulheit. Ich habe aber auch die Kehrseite davon kennengelernt: Das Evangelium der Erlösung durch Leistung. Der Einzelne sucht für sich passend eine Möglichkeit, um der Trägheit der Sinnlosigkeit zu entfliehen. Um der tödlichen Langeweile zu entrinnen, wählt er ein Freizeitvergnügen – bevorzugt Sport -, das er intensiv zu betreiben beginnt. Andere flüchten sich in die Arbeit. Wieder andere wählen einen ganz begrenzten Bereich aus – zum Beispiel die Einrichtung der eigenen vier Wände und der Level an Ordnung und Sauberkeit -, an dem sie ihr eigenes Gesetz umzusetzen trachten.
Am eigenen Leben und im Anleiten der Kinder spüre ich täglich die Gratwanderung zwischen dem gesellschaftlich vorgeschriebenen Minimalismus und dem pausenlosen Antreiben, um die selbst angelegte Latte zu schaffen. Ich habe mich beispielsweise sehr geärgert, dass es mir 2015 nicht gelang, ein umfangreicheres Buch fertig zu stellen. Oder bei meinem Junior stellte sich Unzufriedenheit ein, wenn er merkte, dass die Kräfte des Tages nicht für die selbst gesteckten Ziele ausreichten.
Im Ringen zwischen der Ideologie des Minimalismus und des Leistungskults richte ich mich nach folgenden Gesetzmässigkeiten:
Die Begrenzung annehmen: Ich gehe – von Ausnahmen abgesehen – nicht über meine Kräfte hinaus. Ich akzeptiere Müdigkeit, körperliche Schmerzen, unvorhergesehene Störungen als von Gott gegeben.
Wirken, solange der Tag geht und solange die Kräfte reichen: Ich bitte Gott, mich vor Resignation zu bewahren. Jeder Tag ist ein Geschenk von ihm. Er erhält mich jeden Augenblick. Solange Zeit und Kräfte reichen, arbeite ich unverdrossen weiter. Zentraler Bestandteil dieser Lebenshaltung ist das vierte Gebot. Du sollst sechs Tage arbeiten und einen Tag ausruhen.
Nach dem Straucheln Eigenwillen eingestehen und wieder aufstehen: Es gibt Zeiten, in denen ich über meine Kräfte hinausgehe; wo ich Warnungen meiner Nächsten in den Wind schlage; wo ich meinen Kopf durchdrücken will. So bald ich dies erkenne und mir Gott den Blick freigibt auf meine Verfehlung, möchte ich diese eingestehen – und weitergehen.
Niederlagen aus Gottes Hand annehmen: Gott benützt auch Niederlagen und Rückschläge zu unserer Zurüstung. Er wird das auch bei meinen Söhnen tun. Im Schmerz und der Trauer des Verlustes eigener Erwartungen und Ziele mischt sich schnell die Einsicht: Das gehört zur Erziehung, die mir mein Vater zukommen lässt.
Also gilt: Ich möchte weder resignieren und mich meiner Trägheit ergeben noch mich dem eigenen Ehrgeiz versklaven. Dafür brauche ich – brauchen wir – von Moment zu Moment seine Gnade.