Standpunkt: Der Richtungskampf der Evangelikalen – es geht um das Wesentliche!

In Deutschland tobt ein Richtungskampf innerhalb der Evangelikalen Bewegung. "Evangelikale ringen um ihren Kurs", lautete eine Schlagzeile. "Selten hat eine Kontroverse die evangelikale Bewegung so sehr aufgewühlt", war in idea.de zu lesen. Im Beitrag "Innerer Riss innerhalb deutscher Evangelikaler tritt zutage" habe ich einige Argumente zusammengefasst. Der Theologe und Publizist Ron Kubsch hat auf des "Pudels Kern" hingewiesen: Die postmoderne Hermeneutik. Sogar die FAZ hat den "Aufruhr" in einem Artikel aufgegriffen, wie das Pro Medienmagazin berichtet. Ein Sturm im Wasserglas?

Als Schweizer blicke ich auf einige Anlässe der letzten Jahre in unserem Land zurück: Greg Boyd zeigte sich auf Chrischona und lehrte den Open Theism, Volf fuhr nach Fribourg und alle pilgerten hin, Brian MacLaren sprach in Zürich und wurde vom hiesigen IGW-Seminar warm promotet. Irritiert habe ich mir die Augen gerieben. Warum wendet niemand etwas dagegen ein? Kann jeder lehren, was er will? Haben wir da nicht das von Paulus angesprochene Problem, dass wir einfach auf das hören, was uns "in den Ohren kitzelt" (2. Timotheus 4,3)? Ich erdreistete mich damals, zum Auftritt von N. T. Wright in der Schweiz ein kurzes Interview zu posten.

Nein, behaupte ich, das ist kein Sturm im Wasserglas. Das ist ein Richtungskampf, wo es um das Wesentliche geht, nämlich um die Bibel- und Wahrheitsfrage. Endlich ist die Diskussion aufgebrochen. Meines Erachtens erfolgt sie zu spät. Nicht dass ich vergessen hätte, dass unsere Breitengrade schon seit 250 Jahren von der Bewegung, Gott aus dem öffentlichen und zunehmend auch privaten Leben zu verdrängen, erfasst sind. Im Gegenteil bin ich davon überzeugt, dass wir jetzt von vergangenen Kontroversen profitieren könnten: Vom Streit in Grossbritannien in den 1960er-Jahren (siehe dazu meine Rezension von J. I. Packers Buch "Fundamentalism and the Word of God") wie auch vom Konflikt unter den Presbyterianern in den USA der 1920er und 1930er.

Die Wahrheits- und Bibelfrage geht allen anderen Lehrfragen voran. Sie ist die Vorrede unserer Theologie. David F. Wells hat mit seinem Buch "No Place for Truth" bereits 1993 darauf hingewiesen, dass die entscheidenden Elemente eines evangelikalen Bekenntnisses wegerodiert waren. Die Grundwahrheiten würden zwar auf dem Papier noch bekannt, die Gemeinden seien jedoch inhaltlich vom Zentrum des evangelikalen Lebens weggerückt. Die „Anwendbarkeit“ habe die Theologie ersetzt. Die veränderte Methodologie habe den Glauben – entgegen allen Beteuerungen – mit verändert, streicht er im Folgeband "The Courage to Be Protestant" heraus (auch hierzu habe ich eine Besprechung geschrieben). Wie sollte zum Beispiel zum Ausdruck kommen, dass ein Glaube für alle Generation mit derselben Botschaft gilt, wenn mit altersgerechten Programmen feinste Zielgruppen-Segmentierung betrieben werde? Viele Gemeinden arbeiteten nach dem Business-Modell: Wahr ist das, was funktioniert. Zum sensiblen Umgang mit dem Zielmarkt gehört, das eigene Klientel nicht mit zu anspruchsvollen oder fordernden Inhalten zu vergraulen. Schliesslich entscheidet der souveräne Gottesdienst-Konsument darüber, welche Produkte er kauft oder nicht. Als autonomer Kunde befindet er über die Inhalte, inklusive des Wortes Gottes.

Ich komme auf den Konflikt vor 100 Jahren unter den Presbyterianern zu sprechen. Gresham Machen, ein damaliger Wortführer, hat das kürzlich in die deutsche Sprache übersetzte Buch "Christentum und Liberalismus" verfasst (hier geht es zu meiner Besprechung). Er zeigt meines Erachtens überzeugend auf, dass eine liberale Version des Christentums keine Spielart des Glaubens, sondern eine andere Religion darstellte. Was mit der Frage der Glaubwürdigkeit der Bibel beginnt, hat einen Dominoeffekt auf Gotteslehre, Christologie, Anthropologie, Ekklesiologie und am Schluss den Dienst in dieser Welt (wie ich hier in einer Tabelle darzustellen versucht habe).

"Ich fühle, also glaube ich." Diese Formel bringt die unbewusste Denk- und Glaubenshaltung vieler sogenannter "Evangelikaler" auf den Punkt. Nicht nur wurde das Denken stark abgewertet, es wurde geradezu als Hindernis für eine "authentische Spiritualität" hingestellt. Die pragmatische Orientierung – wahr ist eben das, was funktioniert – liess sich gut einer aktionistischen Diesseits-Orientierung verbinden. Soziale Anliegen wurden in den Vordergrund gestellt. Kein Wunder ist um die Lehre der Rechtfertigung eine intensive theologische Debatte entstanden. Sie steht dem westlichen Voluntarismus ("du kannst, wenn du willst") eben diametral entgegen (siehe "Die Rechtfertigungslehre und der amerikanische (deutsche) Traum").

Das bedeutet im Gemeindealltag: Das „Höchste der Gefühle“ sind Bücher in der Art von Max Lucados "Schön, dass es dich gibt". Die darin enthaltenen Geschichten rühren an der Seele. Der Mensch wird aufgebaut. Die Deutung wird offen gelassen, von einzelnen eingestreuten Bibelversen abgesehen. Manche Predigten gleichen diesem Buch: Die eigentliche Botschaft stammt vom Prediger und widerspiegelt deshalb oft den Konsens der eigenen evangelikalen Subkultur. Die Unterscheidung zwischen errettender Gnade und erhaltender Gunst Gottes entfällt weitgehend. Es erstaunt mich denn nicht, dass der Verlag Gerth Medien Rob Bells „Gottesleere“ in deutscher Sprache herausgegeben hat. Kubsch schreibt dazu: "Das wohlwollende Vorwort stammt von Jürgen Mette, Mitglied beim Hauptvorstand der Deutschen Evangelischen Allianz."

Da wären wir also wieder, bei der Deutschen Evangelischen Allianz. Das Thema der Homosexualität, das dieser Tage so heiss diskutiert wird, ist nur ein Auslöser. Gehen wir zurück zu des "Pudels Kern". Eine ganze Reihe von Theologen, Pastoren und Gemeindeleiter behauptet heute, dass es nicht mehr möglich sei, Wahrheit zu erkennen. Sie haben ein skeptisches Wahrheitsverständnis verinnerlicht. Wir könnten Wahrheit gar nicht erkennen bzw. nur in der Situationen existenzieller Betroffenheit Gottes Rufen vernehmen. Dieser Skeptizismus ist nicht nur selbstwidersprüchlich, sondern untergräbt die biblische Weltsicht (siehe Carsons Charakterisierung der postmodernen Erkenntnistheorie). Wir zweifeln an allem Aussenstehenden – inklusive der Bibel –  und ziehen unser eigenes Ich am wenigsten als Objekt des Zweifels in Betracht! Wir geben damit die externe Basis unserer Wahrheit, das unfehlbare Wort Gottes, preis. Das sah übrigens Francis Schaeffer (1912-1984) in seinem kurz vor seinem Tod fertig gestellten Buch "Die grosse Anpassung" messerscharf voraus:

Wenn wir in Bezug auf die unumschränkte Autorität der Bibel einen Kompromiss eingehen, dann wird dies mit der Zeit einen Einfluss darauf haben, was es im theologischen Sinne heißt, ein Christ zu sein, und dieser Kompromiss wird auch Auswirkungen darauf haben, wie wir in dem gesamten Spektrum des menschlichen Lebens unser Leben führen.

Ohne eine feste Meinung „sind wir für die schwierigen Zeiten nicht gewappnet“ (55). „Die ruhigen Zeiten der Evangelikalen gehören der Vergangenheit an, und nur ein fester Blick auf die Bibel wird es uns ermöglichen, dem alles durchdringenden Druck einer Kultur zu widerstehen, die sich auf den Relativismus und auf relativistisches Denken gründet.“ (57) Dieser feste Blick ist uns abhanden gekommen. Schaeffer kündigte auch an, wie das geschehen würde. Er sah die Gefahr in einer Zweiteilung der Bibel in „Quelle für religiöse Erlebnisse“ (valide) und „überprüfbare Gebiete“ (fehlerhaft). Die fatale Folge davon sei, dass die innere Empfindung von der objektiven Wahrheit abgeschnitten werde (61). Wahrheit wird letztlich etwas Subjektives. Damit hängt zusammen: „Die Kultur muss ständig aufgrund der Bibel beurteilt und nicht etwa die Bibel ständig der sie umgebenden Kultur unterworfen werden.“ (66) Genau dies ist geschehen.

Wolfgang Thielmann und Hannes Leitlein äusserten sich im Artikel „Im Glauben zerrissen“ zur Frage, ob sich die evangelikale Bewegung am 23. Januar 2016 spalten könnte. An diesem Tag hat der Evangelist Ulrich Parzany etwa 60 Theologen nach Kassel geladen. Die Autoren des Artikels sehen in Parzany einen „verbitterten alten Mann“, der homosexuelle Handlungen aus der Sicht der Bibel als Sünde werte. Seinen Kontrahenten Michael Diener verorten sie als Evangelikalen mit „Nähe zur Macht“. Der Vorsitzende des Netzwerks Evangelium21, Matthias Lohmann, schreibt:

Die Debatte zeigt uns deutlich, dass das schriftgemäße Lehren in unseren Kreisen vernachlässigt wird. Dabei ist es so eminent wichtig, ein klares und biblisch sorgfältig begründetes Schriftverständnis zu haben. Zu diesem Schriftverständnis gehört auch eine Auslegung, die die Aussagen und Ansprüche biblischer Texte ernst nimmt. Genau darum soll es bei der diesjährigen Evangelium21-Konferenz gehen, die unter dem Motto steht: „Gott beim Wort nehmen“. Die Konferenz soll das in der Schrift verwurzelte Verständnis von Wahrheit, Ethik und Seelsorge stärken.

Der Gott geschenkte Glaube führt zu einem durch den Heiligen Geist erleuchteten Verstand. Dieser vertraut sich den propositionellen Aussagen von Gottes Wort als oberster Instanz an. Von dort aus entfaltet er einen grossen Eifer, mit allen geschenkten Fähigkeiten – gerade auch dem Verstand – das Offenbarte zu erkennen. Er verweigert sich niemals historischem Studium oder genauer Exegese. Das bedeutet, dass wir  zur Bekenntnistreue aufgerufen sind, niemals aber zu Isolation und Abschottung. Ich zitiere nochmals Francis Schaeffer, dieses Mal aus seinem Vortrag an der Lausanner Konferenz für Weltmission (1974):

Wir brauchen gewissermassen zwei Orthodoxien: eine Orthodoxie der Lehre und eine Orthodoxie der Gemeinschaft. … Wir müssen unseren Kindern und der Welt, die uns beobachtet, zeigen, dass wir die Wahrheit ernst nehmen. In einem relativistischen Zeitalter verhallten Lippenbekenntnisse zur Wahrheit ungehört, wenn wir nicht sichtbar und ohne Furcht vor möglichen Konsequenzen diese Wahrheit praktizieren. Als Christen behaupten wir zu glauben, dass Wahrheit existiert. Wir erklären, die Bibel vermittle uns diese Wahrheit in logischer, sprachlicher Form, die wir anderen Menschen weitergeben können. Genau diesen Anspruch erhebt das Evangelium, und dieser Aussage schliessen wir uns an. Damit stehen wir aber im Widerspruch zu einer relativistischen Zeit. Können wir dann auch nur einen Augenblick annehmen, wir seien glaubwürdig, wenn wir angeblich an die Wahrheit glauben und doch die Wahrheit in religiösen Dingen nicht praktizieren? Wenn wir hier versagen, können wir nicht erwarten, dass uns die kritischen jungen Menschen … ernstnehmen. (36; 14-15)