Cornelius van Til: Gefeierter und umstrittener Führer einer Bewegung
Jetzt habe ich es gelesen, die 400 Seiten von John Frame über Cornelius van Til. Wie bei manch anderen anspruchsvollen Büchern benötigte ich dazu zwei Anläufe. Es hat sich mehr als gelohnt. Im deutschsprachigen Raum ist Cornelius van Til (1895-1987) kaum bekannt, da seine Werke nicht auf Deutsch übersetzt sind. In den USA ist sein Name für einige die Erleuchtung schlechthin, für andere – sagen wir es geradeheraus – ein rotes Tuch. Das hat mit verschiedenen Dingen zu tun.
- Van Til ist kein Häretiker. Als scharfsichtiger (und zuweilen scharfzüngiger) philosophischer Theologe hat er zeitlebens theologische Denk- und Lehrsysteme kritisiert. Es schien ihm dabei keine Rolle zu spielen, ob sie der liberal-protestantischer, katholischer oder auch konfessionell-reformierter Prägung waren. Eine kleine Kostprobe gefällig? Hier habe ich die Zusammenfassung von Van Tils Kritik an Karl Barth wiedergegeben. Es ist die beste Kritik, die mir bekannt ist.
- Van Til war ein „Movement Leader“ (10). Das heisst, er war Anführer und Kopf einer reformierten Bewegung in den USA. Führer von Bewegungen fallen nicht nur durch ihre Rhetorik auf, sondern gleicherweise durch faszinierte Anhänger und gnadenlose Kritiker.
- Van Tils Gabe war es eingängige Begriffe zu definieren und mit ebenso einschlägigen Metaphern zu operieren. Diese Gabe modellhaft zu arbeiten, ging manchmal zugunsten der definitiorischen und inhaltlichen Schärfe und Klarheit. (Das machte die Arbeit von van Tils Schüler Frame umso interessanter.)
- Van Til unterrichtete über Jahrzehnte am gleichen Seminar (Westminster Seminary), zu deren Gründungsfakultät er gehörte. Er publizierte vor allem in den eigenen Organen und verlegte seine Bücher im gleichen Verlag. Gewisse Stimmen meinen, dass es ihm dadurch manchmal an direkter Konfrontation innerhalb des eigenen Gärtchens gefehlt habe.
- Nach aussen gelangte Van Tils Polemik viel lauter, als es seine Freundlichkeit und seine Geduld gegenüber Studenten nach innen war. Er war grosszügig mit seinen Ressourcen und verbrachte Zeit mit gelehrten und einfachen Menschen gleicherweise (27).
Eine wohlwollend-kritische Analyse
Mit diesen Vorbemerkungen mache ich mich an die Besprechung des Buches heran. Ich bin kein Van-Til-Anhänger, aber ich bin froh, bei diesem begnadeten Apologeten (durch seine uns erhaltenen Werke) in die Schule gehen zu dürfen. Wer weiss, vielleicht ist gerade seine Aufgabe als Apologet das, was uns sein Werk und seine Gedanken so unangenehm machen lässt. Umso überzeugter bin ich, dass van Til meiner und den folgenden Generationen eine Menge mitzugeben hat. In diesem Sinn hat Frame uns einen wichtigen Dienst erwiesen, indem er diese – wie er es selber nannte – wohlwollend kritische Analyse seines Werks zusammengestellte (8).
Wie ist die Analyse aufgebaut (51)? Sie kann in vier wichtige Kategorien aufgeteilt werden: Metaphysik/Epistemologie (metaphysiscs of knowledge), Ethik der Erkenntnis (ethics of knowledge), das Argument für das Christentum (Apologetik I) und die Kritik des Unglaubens (Apologetik II). Im ersten Teil sieht Frame van Tils grösste Verdienste, im zweiten das grösste Potenzial für Missverständnisse.
Was behandelt Frame? Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis lohnt sich.
- Metaphysik/Epistemologie: Gotteslehre (self-contained fullness and absolute personality, Trinität, Souveränität), Epistemologie (analoge Erkenntnis, Offenbarung, Verstehensvoraussetzungen, Primat des Intellekts, Logik, Gewissheit)
- Ethik der Erkenntnis: Antithese, Allgemeine Gnade, Rationalismus und Irrationalismus
- Das Argument für das Christentum: Ein Gang durch die Geschichte der Apologetik (Kirchenväter, Thomas von Aquin, Joseph Butler, Edward J. Carnell), Zirkularität, Verstehensvoraussetzungen, Beispiel eines christlich-theistischen Arguments
- Die Kritik des Unglaubens: Van Tils Kritik an der griechischen Philosophie und dem Scholastizismus, Immanuel Kant und Karl Barth sowie Herman Dooyeweerd
Worin wurde van Til missverstanden?
Gesamteinschätzung: Die allergrössten Teile von van Tils System sind biblisch wohl fundiert. Manche Formulierungen geben jedoch zu Missverständnissen Anlass. Übrigens wuchs van Til in einer reformierten Familie heran. Er wurde durch das tägliche fortlaufende Lesen der Bibel nachhaltig gestärkt. Der Heilige Geist nutzte dies zu einem Zeugnis, das so stark war, dass er gar nicht anders als glauben konnte. Ich meine einen gewissen Zusammenhang zu seinem Lebenswerk zu erkennen, gerade was seinen tranzendentalen theologischen Ansatz angeht. Durch van Tils Flughöhe könnte der Anschein entstehen (nicht zu Unrecht), dass die Argumentation im persönlichen Gespräch nicht oder nur unter dem Vorwurf von Arroganz eingebracht werden kann. (Deshalb verlasse ich mich im einzelnen Gespräch lieber auf das persönliche Vorgehen Schaeffers, jedoch mit van Tils im Überlegungen im Hinterkopf. Van Til hat Schaeffer übrigens kritisiert, diese Kritik jedoch nicht veröffentlicht.)
Manche Anhänger von van Til verwehren sich jeglicher sachlicher Argumente und tun sie als „evidentialistische Apologetik“ ab. Frame betont jedoch durch das ganze Buch, dass van Til vor allem die Prämisse, den Ausgangspunkt (besser „Verstehensvoraussetzung“ genannt) betonte: Erst unter der Annahme der Existenz Gottes und seiner Offenbarung, möglich durch das Geschenk des Glaubens, kommt Licht ins Dunkel. Das würde jedoch nie heissen, dass van Til behauptet hätte, dass Glaube nicht rational sei. Er war nicht im Entferntesten ein Fideist, sondern betonte oft die detaillierte Studie von wissenschaftlichen und historischen Beweisen für das Christentum (180). Er hätte jedoch nie endlos debattiert, ohne auf die Verstehensvoraussetzungen zu sprechen zu kommen (181). Dies hängt mit dem Grundsatz zusammen, Fakten nie von der Interpretation zu trennen (183) – ein weises Prinzip.
In welchen Punkten kritisiert Frame seinen Lehrer?
Van Til sah sich als Nachfolger von Abraham Kuyper und Gresham Machen in der Verteidigung der sogenannten Antithese, also dem Gegensatz von Glaube und Unglaube. Epistemologisch betrachtet ging es um die Auswirkungen des Sündenfalls auf das Gewinnen von Erkenntnis. Zuweilen betonte er diese Spannung so stark, dass dabei die andere Seite (die der Allgemeinen Gnade) zu kurz kam. Er war in dieser Betonung jedoch nicht konsistent. Frame zeigt sorgfältig auf, dass van Til sich an anderen Stellen seines Werks milder geäussert hat und nicht einfach der Weltfremdheit bezichtigt werden kann.
Durch das Bemühen, die grossen Zusammenhänge sichtbar zu machen, konnte van Til den Bogen auch schon mal zu weit spannen. Dann ging er von Genesis bis Offenbarung, von Thales bis zum Existenzialismus (30).
Van Til liess sich im eigenen Lager auf theologische Konflikte ein, deren Ergebnis Entzweiung war. Frame behandelt den Konflikt mit Gordon Clark ausführlich. Er ist der Meinung, dass die Entzweiung in dieser Form nicht gebraucht hätte.
Worin sieht Frame den Nutzen van Tils für das 21. Jahrhundert?
Bei van Til lernen wir die eine Lehre im Licht der anderen zu interpretieren, anstatt sie gegeneinander auszuspielen. Dies betrifft zum Beispiel die Lehre der göttlichen Souveränität und der menschlichen Verantwortung (168). Van Til sprach von „vordergründigen Widersprüchen“ (apparent contradictions, siehe S. 156 für eine Aufzählung von Beispielen).
Ungemein hilfreich empfinde ich selbst das einfache Modell der Schöpfer-/Geschöpf-Unterscheidung (53). Es betrifft eine fundamentale Unterscheidung, die in viele konkrete Lebenssituationen hineinspielt. Natürlich kann man diese Schematisierung einzusetzen.
Weiter betrachte ich die epistemologische Unterscheidung zwischen den Dimensionen Gott, Mensch und Schöpfung als äusserst ergiebiges Meta-Modell. Ich gebrauche zwar nicht van Tils Matrix, indem ich detailliert die einzelnen Beziehungen beschreibe (z. B. zwischen Gott und Mensch, Mensch und Mensch, Mensch und Schöpfung), sondern indem ich die drei Akteure stets im Blickfeld behalte.
Einstieg in das Studium van Tils
Frame gelangt zur Schlussfolgerung, dass van Til „der wichtigste christliche Denker unserer Zeit“ sei (47). Er differenziert im gleichen Atemzug: Nicht der klarste und überzeugendste. Frame empfiehlt drei Bücher zum einführenden Lesen:
- Why I Believe in God (kostenloser Online-Download) – Frame ist voller Lob und Anerkennung für diese sehr persönlich geschriebene, zeugnishafte Verteidigung des Evangeliums. Sie liefert uns eine gute Stütze im Gespräch mit Andersdenkenden und rüstet uns mit einigen anschaulichen Vergleichen aus.
- Introduction to Systematic Theology: Frame führt in die Grundgedanken der Epistemologie, der Lehre der Schrift und der Gotteslehre. Frame stuft van Til übrigens eher als Theologen als Apolegeten ein. Van Til gibt in diesem Buch auch Einblick in seine wichtigsten Lehrer wie Charles Hodge, Abraham Kuyper und Herman Bavinck. Indirekter Nutzniesser dieses Gedankengangs war der unvergleichlich populärere Schüler von van Til, Francis Schaeffer. Die neue Ausgabe wird von Brian Edgar sorgfältig eingeleitet und mit wertvollen Kommentaren versehen.
- The Defense of the Faith: Diese Ausgabe wird von Scott Oliphint, der selber eine Apologetik herausgegeben hat, eingeführt und kommentiert.