Seit nämlich der Mensch Gott entfremdet ist, hält Finsternis seinen Sinn so umfangen, dass alles ihm verbliebene Licht wirkungslos und wie erstickt bleibt. Das beweist auch täglich die Erfahrung. Alle nämlich, die durch Gottes Geist nicht wiedergeboren sind, und doch irgendeine geistige Kraft besitzen, sind ein unumstösslicher Beweis dafür, dass der Mensch nicht nur dazu geschaffen ist, zu atmen, sondern zu erkennen. Aber unter der Führung dieser seiner Vernunft kann er nicht zu Gott gelangen, ja nicht einmal ihm näher kommen. Daher ist seine Erkenntnis letzten Endes nichts als reine Torheit. Daraus folgt: um das heil der Menschen wäre es geschehen, wenn ihnen Gott nicht erneut zu Hilfe käme. Denn obwohl Gottes Sohn sein Licht in sie ausgiesst, sind sie doch so schwachsichtig, dass sie den Ursprung dieses Lichtes nicht zu erfassen vermögen, sondern es fehlt ihnen weiterhin an Weisheit, und sie folgen ihren wahnwitzigen und verkehrten Einbildungen. … allen ist von Geburt eigen irgendein Samenkorn von Religion; sondann ist in ihren Gewissen tief eingeprägt die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Aber was kommt dabei schliesslich heraus? Die Religion entartet in tausendfachen Aberglauben, das Gewissen aber vliert die Sicherheit des Urteils und verwechselt so Laster mit Tugend. Insgesamt: Niemals wird die natürliche Vernunft die Menschen zu Christus bringen. Wir sind zwar dahin angelegt, unser Leben verständig zu führen, wir sind geboren zu vortrefflichem Tun und Wissen, aber auch dies alles ist umsonst und eitel.
… Aber da ja das Licht, das weiter in ihm lebt, durch seine törichte Verkehrtheit verfinstert, muss der Sohn Gottes eine neue Aufgabe übernehmen, nämlich die des Mittlers, der den verlorenen Menschen durch geistliche Wiedergeburt erneuert.
Johannes Calvin. Auslegung der Heiligen Schrift. Das Johannes-Evangelium. Neukirchener: Neukirchen-Vluyn, 1964. S. 12-13. (Auslegung zu Joh 1,5)