Buchbesprechung: Die Nachfolge Christi

Herman Bavinck. Imitatio Christi (1885/86 und 1918). In: John Bolt. A Theological Analysis of Herman Bavinck’s Two Essays on the Imitatio Christi: Between Pietism and Modernism. Edward Mellen: New York 2013. S. 372-440.

Der erste Aufsatz zur Nachfolge Christi (1885/86)

Der Aufsatz beginnt mit der Feststellung, dass der Ruf zur Selbstverleugnung eine zentrale Rolle im Lehren von Jesus und seinen Jüngern gespielt habe. Die Geschichte der christlichen Kirche sei aber auch voll von Missinterpretationen bezüglich der Nachfolge Christi gewesen. Bavinck verfolgt die grossen Linien der Kirchengeschichte.

Die ersten Christen lebten in einer Zeit der Verfolgung – in der Hoffnung auf eine bessere jenseitige Welt. Mit der Zeit gelangte das Martyrium sogar zu Ehre, der Tod wurde zum Triumpf. Mit der staatlichen Anerkennung des Christentums geriet die Kirche in Abhängigkeit vom Staat und büsste einen Teil ihrer moralischen Kraft ein. Diese führte zu zwei Strömungen innerhalb der Gemeinden: Die begannen sich in der Welt richtig zu Hause zu fühlen, während die anderen vor der Gefahr der Anpassung warnten. Die mönchische Bewegung kann deshalb als Nachfolgebewegung der Märtyrer gesehen werden. Das Mönchtum entwickelte zwei Standards von Moral und Verpflichtungen, ein niedriges und ein höheres Leben. Dies führte zur Abspaltung des natürlichen Lebensbereichs vom Bezirk des Glaubens.

Die mönchischen Reformbewegungen strebten nach Erneuerung und der Rückkehr zum Modell der frühen Kirche. Die Waldenser erhoben die Bergpredigt zum Gesetz und zum Prüfstein der wahren Kirche. Das gesamte Leben von Jesus musste nachgeahmt werden, deshalb das Armutsideal. Dies führte beispielsweise zum Extrem der Stigmatisierung, dem Imitieren der Wunden Jesu. Damit sollte sich zeigen, dass der Geist dem Körper überlegen war.

Diesen drei Modellen der Nachfolge Christi, dem Märtyrer (Frühzeit), dem Mönch und dem Mystiker (Mittelalter) fügt Bavinck einen vierten Typus der Moderne hinzu: Den rationale Weg der Nachfolge. Jesus ist ein normales menschliches Lebewesen, das in Worten, Tat und Tod ein normatives Ideal darstellte.

Wie aber sollte die Nachfolge Christi gelebt warden? Bavinck stellt klar, dass diese nicht richtig verstanden werde, solange sie als sklavisches Kopieren seiner Worte und Taten aufgefasst sei. Es geht vielmehr um eine Anwendung der Prinzipien, nach denen Jesus lebte und das Moralgesetz erfüllte. Der Kerngedanke der Nachfolge besteht in der lebendigen Gemeinschaft mit Christus, der unio mystica. Unser Leiden ist so nicht das erlösende Leiden Christi, sondern in allgemeinem Sinn zu verstehen. Diese geistliche Einheit findet ihren konkreten Ausdruck im Bereich des Ethischen (398-99).

Der zweite Aufsatz zur Nachfolge Christi (1918)

Bavinck schrieb den zweiten Aufsatz am Ende des Ersten Weltkrieges. Die schnelle Kette von schrecklichen Ereignissen hatte nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Theologenwelt nachhaltig erschüttert. Der Fortschrittsglaube war jäh in Frage gestellt. Viele ethische Fragen standen im Raum, so zum Beispiel die Frage nach dem gerechten Krieg.

Erneut blendet Bavinck – diesmal viel kürzer – auf den antithetischen Stand der ersten Christen angesichts der gesellschaftlichen Dekadenz zurück. In den ersten Jahrhunderten galt der Märtyrer als wahrer Nachfolger Christi. Erst die Reformation überwand dieses asketische Ideal, auch wenn diese Tendenzen gleich nachher wieder Eingang in die protestantischen Kreise gefunden habe. So bestehe eine Lebensstrategie des „frommen und einfachen Christen“ darin, die Kirche als unbedeutende, kleine Schar von Pilgern zu sehen, die durch ein Tränental wanderten. Diese pflegten ein freudloses, weltabgewandtes Ethos, in dem es kaum Interesse an wissenschaftlichen Errungenschaften und Schöpfungen der Kunst gebe. Während die einen nach dem „ursprünglichen Christentum“ riefen, votiert die Gegenseite, dass sich das Christentum definitiv überlebt habe oder nur noch als Wert für die private Moral überleben könne. Für Bavinck waren dies jedoch keine befriedigenden Antworten. Er rang – wie schon sein ganzes Leben – angesichts der “grossen Bürden” des modernen Lebens um eine differenzierte Alternative. Dafür ging er in Altes und Neues Testament zurück

Im alttestamentlichen Israel ging es in der Nachfolge Jahwes um die Treue gegenüber dem Gesetz Moses. Die Jünger Jesu realisierten während der dreijährigen Wanderschaft mit ihrem Meister, dass sie unweigerlich mit Ablehnung und Hass konfrontiert sein würden. Das Kreuz wurde Symbol des Leidens, das sämtliche Nachfolger erwartete. Hier flechtet Bavinck einige hermeneutische Anmerkungen zum besseren Verständnis der Bergpredigt ein. Das Gesetz des Alten Testaments enthielt zahlreiche zivile und zeremonielle Bestimmungen. Das Neue Testament basierte auf dem Alten. Die Jünger mussten jedoch ein neues Verständnis eben dieses Gesetzes gewinnen. Es ist dabei nicht unwesentlich zu berücksichtigen, dass die Berpredigt sich in erster Linie an seine Jünger richtete. Da die Jünger Vertreter der ärmeren Schichten der Bevölkerung waren, wäre es unangemessen gewesen, ihnen das Kulturmandat vorzustellen und sie zu dazu aufzurufen, irdische Güter aufzuhäufen oder Industrie und Handel weiter zu entwickeln („It would have been quite inappropriate to set before them a so-called cultural mandate, a call to engage in science and art, to accumulate earthly goods and develop industry and commerce.” 418)

Die Nachfolgegenerationen fühlten sich in der Welt nicht zu Hause. Sie wurden verfolgt. Es ging – so Bavinck – in der ersten Periode darum, dass die Kirche ihre unabhängige Identität bewahrte und ihre eigene Stellung behielt. An der gesellschaftlichen Ordnung wurde nichts geändert; der Sklave blieb Sklave. Die Apostel begnügten sich mit der geistlichen Freiheit und wandten diese nicht auf das soziale Leben an. Nirgend finden wir einen Aufruf, für die Freiheit aufzustehen, auf eigenen Rechten zu beharren oder das eigene Los zu verbessern. Im Vordergrund stand das Bewusstsein der baldigen Wiederkunft Christi.

In späteren Phasen genügten diese “passiven Tugenden” nicht mehr. Die Kirche musste ihre Stellung gegenüber der Welt revidieren und sich der Aufgabe der Reform und Erneuerung in der Welt durch christliche Prinzipien stellen. (Hier ist jeweils besonders der Aufbruch in den von der Reformation geprägten Ländern sowie auch der neocalvinistische Schub ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemeint.) Bavinck stellt hier die Theologie des Kreuzes dem Prinzip der Inkarnation (der Menschwerdung Christi) und der Theologie der Herrlichkeit gegenüber. Nur in der komplementären und damit in einer Spannung stehenden Berücksichtigung beider Seiten könne Jüngerschaft in der modernen Welt richtig verstanden werden. Es gehe um den “gesamten Christus”, den gekreuzigten und den verherrlichten. Mit der apostolischen Lehre würden wir über eine Konzeption von Nachfolge hinausgehoben, welche die Bergpredigt als neues, vollkommenes Gesetz und Modell Christi deutete, das reproduziert werden musste. Jesus würde sein Volk nicht aus der Welt nehmen, sondern vor dem Bösen bewahren (Joh 17,15). Die Apostel standen der Schöpfung nicht entgegen, sondern dem Bösen innerhalb der Welt (1Joh 2,16).

Eine Verbindung zwischen dem Christentum und der Welt könne jedoch nur in ethischer Hinsicht stattfinden. Das Christentum brachte keine Kultur hervor, sondern traf auf eine bestehende Kultur. Es gehe nicht darum, dass der Glaube das Leben der Kultur – Kultur verwendete Bavinck in einem weiten Sinn, nämlich sämtlicher menschlicher Entwicklungen und Errungenschaften in der Natur – nicht verneine, sondern ihre Gesetze respektiere. Nicht das Studium der Schrift, sondern das genaue Studium seiner Schöpfung statte uns für diese Aufgabe aus. Das Waffenarsenal des Christen bleibe jedoch beschränkt: Zwang, Macht, Reichtum, Schmeichelei und Heuchelei sind ihr verwehrt; die einzig legitimen Waffen sind “das Wort und der Glaube, Wahrheit und Gerechtigkeit”.

Bavinck kann der Auffassung, dass der Stand des Christentums gegenüber der Kultur dem der frühen Kirche entsprechen müsse, wenig abgewinnen. Es gebe “einfach viel zu viel in unserer gegenwärtigen Kultur, dass wir glücklich und dankbar das akzeptieren, das wir täglich nützen und geniessen”. Es sind gute Geschenke des “Vaters der Lichter”. Es handelt sich also um ein ethisches Ringen. Bis zum gegenwärtigen Tage seien das öffentliche Leben immer noch stark durch die ethischen Normen des Christentums geprägt. (Ich fragte mich, wie Bavinck 2016 die Lage eingeschätzt hätte.) Eine “durch und durch gesunde Kultur” sei zudem utopisch. Der Zustand der Vollkommenheit sowohl bei Einzelnen als auch bei Gemeinschaften und Staaten würde erst in der Zukunft verwirklicht werden.

Im Licht dieser Überlegungen kann die anarchistische oder quietistische Moral, welche die Abschaffung des Krieges fordert, nur zurückgewiesen werden. Ja, Christen sind aufgerufen, schon jetzt gegen die Folgen von Sünde, Krankheit und Tod anzukämpfen. Dies sei aber erst ein Vorgeschmack auf den endgültigen Sieg einer zukünftigen Weltzeit. Christen, welche die Nachfolge Christi ernstnehmen, müssen sich also keineswegs der zivilen Ordnung oder dem Krieg als solchen entgegenstellen. Die natürliche Ordnung wird nicht verändert, sondern durch ethische bzw. geistliche Kraft verändert und erneuert. Die christlichen Tugenden bleiben während allen Zeitaltern bestehen, müssen jedoch variiert angewendet werden. Über Strecken schien es, wie wenn die “passive” den “aktiven” Tugenden entgegenstehen würden. Bavinck betont zum Schluss des Aufsatzes das Spannungsfeld. Einmal muss mehr die eine Seite, dann wieder die andere betont werden. Bavinck endet mit der Mahnung, dass “unser materialistisches Zeitalter” die Warnung bestätige, dass das Streben nach Reichtum grosse Gefahren beinhalte. Doch dürfe nicht vergessen werden, dass nicht Gold oder Silber, Besitztum oder Kapital in sich selbst sündig seien – ebensowenig wie Wissenschaft, Kunst, die zivile Ordnung “oder sogar Krieg”. Die Sünde im Herzen des Menschen ist der erste und ursprüngliche Platz des Kampfes. Es sei leichter, Kapital und Krieg zu verdammen, als ein treuer Nachfolger in allen diesen Bereichen zu sein.