Kolumne: Die schleichende Liberalisierung der Freikirchen

Armin Mauerhofer, prägende Gestalt für den Gemeindebau der Schweiz in den letzten Jahrzehnten, äusserte sich in einem idea spektrum-Interview deutlich zum Kurs der Freikirchen. Er spricht davon, dass er als ewig-gestrig bezeichnet werde.

Ich habe Angst, dass die Evangelikalen statt die Auseinandersetzung die Anpassung suchen. Man sucht die Anpassung etwa in den Fragen des Frauenpastorats, der Homosexualität, des vorehelichen Geschlechtsverkehrs, der Scheidung und Wiederheirat. Die Bibel vertritt in all diesen Bereichen klare Standpunkte. Die Evangelikalen passen sich aber immer mehr an. Wenn ich zum Beispiel im Bereich des Frauenpastorats nach wie vor die Auseinandersetzung suche, werde ich verachtet. Man gibt mir zu verstehen, dass ich ein "Ewig-Gestriger" sei. … Es geht hier generell um die Frage, wie verbindlich die Aussagen der Bibel sind. In den Augen vieler gibt es sogenannte Randfragen, in denen die Bibel zeitgebundene Aussagen macht. Es bricht bei dieser Art, die Bibel zu betrachten, doch die Frage auf: Welches sind nun zeitgebundene Aussagen und welche haben überzeitliche Bedeutung? Wenn es in der Bibel zeitgebundene Aussagen und Vorstellungen gibt, warum sollten dann die Aussagen, die das Erlösungswerk Jesu betreffen, nicht auch zeitgebunden sein? Wer sagt mir, wo die Grenze zwischen zeitgebundenen und überzeitlichen Aussagen ist?

Ewig gestrig? Das ist die Logik der Aufklärung. Und auch die Logik des evolutionären Weltbildes. Heute ist besser als gestern. Aus dem Niederen bildet sich Höheres. Alles wächst und verbessert sich. Ein Teil der empirischen Beobachtungen scheinen dieser Logik Recht zu geben. Wenn ich beispielsweise die Entwicklung der Speichermedien (Mikrochips) betrachte, dann war die Entwicklung zu meiner eigenen Lebenszeit bahnbrechend und atemberaubend. Wir lernen jedoch schon aus der Geschichte Kains (1. Mose 4), dass Zeiten der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung nicht mit der geistlichen Bewegung korrellieren muss, ja ihr entgegenlaufen kann. Kain ging vom Angesicht des Herrn weg (4,16) und läutete eine sehr erfolgreiche Etappe der Menschheitsgeschichte ein. Die Menschen wohnten nun in Zelten und Städten. Sie bauten mit Metallwerkzeugen und komponierten Lieder auf ihren selbst gebauten Instrumenten. Doch es mischt sich noch ein anderer Ton in die Geschichte: Da ging ein Mann hin und nahm sich zwei Frauen. Sang- und klanglos setzte er Gottes ursprüngliche Ordnung ausser Kraft. Zudem reklamierte er das Kainsprinzip für sich: Für eine Strieme erschlug er einen anderen Mann. Der Stärkere setzt sich durch. Gottes Urteil lautete ganz anders: Der Mensch handelte verderbt; die Bosheit des Menschen war "sehr gross … auf der Erde und alles Trachten der Gedanken seines Herzens allezeit nur böse" (6,5). 

Ist das nicht kulturpessimistisch? Ja und nein. Wer auf die bisherige Geschichte der Menschheit zurückblickt, stellt fest: Gerade die wirtschaftliche Entwicklung beschleunigte oft den moralischen Zerfall. Das Nordreich Israel erlebte im 8. Jahrhundert vor Christus eine Zeit relativen Friedens und einer wirtschaftlichen Blüte. Auf diesem Hintergrund ist der Prophet Amos zu lesen. In schroffem Ton warnt er die Luxusgesellschaft vor dem Untergang (5,21-27; 6,1-4). Augustinus Anfangs des 5. Jahrhunderts nach Christus die Plünderung Roms. Seine eigene Heimat wurde in den folgenden Jahrhunderten islamisiert, wie auch die grössten Teile des Nahen Ostens. Trotzdem gab es schon bei Kain Hoffnung. Gott schenkte einen Ersatz für Abel. Die Not trieb Adam und Eva und die anderen Nachkommen dazu, den Namen des Herrn anzurufen (1. Mose 4,26).

Seit über 200 Jahren sind wir dabei, unser Fundament zu untergraben. Im 19. Jahrhundert – also nicht erst gestern – herrschte ein grassierender Rationalismus in der Theologie, welche die gesamte Bibel seiner übernatürlichen Dimension beraubte. Wunder wurden ausgemerzt, der biblische Text säuberlich zerpflückt bis fast gar nichts mehr übrig blieb. Die Jesus-Forschung suchte mit der rationalistischen Brille nach den Überresten des historischen Jesus. Die Gegenbewegung mit Karl Barth an der Spitze, rückte von diesem Kurs ab. Angewidert vom Kulturoptimismus der Theologenzunft, der wie die Titanic in voller Geschwindigkeit aufgelaufen und im schrecklichen Wüten des Ersten Weltkrieges untergegangen war, suchte neue Wege. Leider gab es keine Umkehr vom aufklärerischen Pfad. Die Methoden und damit auch die Herangehensweise wurden teilweise übernommen. Der Sauerteig blieb im System.

So ist auch die Geschichte der Freikirchen keine stetig aufwärts führende. Gott hat im 19. und 20. Jahrhundert Zeiten des Aufbruchs geschenkt. Erinnern wir uns aber, wo dieser Aufbruch geschah: Die Freien Evangelischen Gemeinden beispielsweise formierten sich aus den Reformierten Landeskirchen, welche dabei waren, sich des Übernatürlichen zu entledigen. Die bekenntnisorientierten presbyterianischen Gemeinden in den USA sortierten in den 1920ern und 30ern Jungfrauengeburt und das Sühneopfer Jesus aus. Oder überlegen wir uns, was von den Bekennenden Gemeinschaften aus den 1960er-Jahren in Deutschland übrig geblieben ist. Man kann auch in die Niederlande gehen und sich fragen, was vom reformierten Aufbruch Ende 19. und Anfang 20. Jahrhundert heute Bestand hat. Nicht viel, um es schonungsvoll zu sagen. Um was hat man sich damals gestritten? Um die Fragen der Glaubwürdigkeit der biblischen Offenbarung und um die Geschichte des Ursprungs. So wie heute.

Weshalb soll es uns in den Freikirchen am Anfang des 21. Jahrunderts anders gehen? Seit Kindsbeinen an lebe ich auf einer Insel des wirtschaftlichen Wohlstands. Wir wollen nicht gestört werden und immer mehr haben. So bezeichnet Francis Schaeffer die kümmerlichen Restwerte des Nachkriegseuropas schon vor 40 Jahren. Die letzten Jahrzehnte wurden unsere Gemeinden durch "Gemeindebautheorien" importiert aus den USA und durch Psychologisierung von Verkündigung und Seelsorge ausgehöhlt und innerlich destabilisiert. Dabei kommt es uns teuer zu stehen, dass wir uns mit pragmatischen Formeln begnügt haben. Wahr ist das, was unsere Veranstaltungen füllt und unsere Gefühle streichelt. Das Denken überliessen wir anderen und haben uns deshalb von proprietären Gebieten wie Bildung oder Seelsorge verabschiedet. Ein befreundeter Theologe schrieb kürzlich: Viele neueren Bücher auf dem christlichen Buchmarkt sind es nicht wert gelesen zu werden. Zuviel Redundanz mit säkularen Ratgebern.

Die Situation erinnert mich an einen Fluss, dessen Strömung und Sog zunimmt, wenn er auf einen Wasserfall zugeht. Die Kirche hat sich immer wieder der Frage stellen müssen: Wie stehen wir zum Anspruch der Offenbarung Gottes durch die Bibel? Inwiefern und wie weit dürfen und sollen wir die biblischen Aussagen be- und hinterfragen? Ich bin erstaunt, wie spät das Gespräch über darüber aufkommt. Mir scheint, als hätten sich manche Funktionäre "im Aussen verloren". Man will die Kultur transformieren. Ich frage mich nur wie! Mit einer frommen Verpackung des spätmodernen Skeptizismus wohl kaum. Auch nicht mit einer weiteren Beschwörung des Liebesbegriffs. Und schon gar nicht mit einer mystischen Weltflucht.

Angemessener scheint mir viel mehr der Weg von des Königs Josia im 7. Jahrhundert vor Christus zu sein. Der Herrscher des kleinen Reiches Juda stiess beim Umbauen des Tempels auf eine Abschrift des Gesetzes. Gott schenkte ihm aufmerksame Ohren, als ihm der Inhalt vor den Verantwortlichen verlesen wurde. Josia war entsetzt, demütigte sich und fragte den Allmächtigen: Was soll ich tun? Diese Frage ist wichtiger als die Suche nach dem nächsten ultimativen Gemeindebausystem.