Modell (1): Das Leid von kognitiv begabten Kindern

Wie bin ich auf diese Überlegungen gestossen?

In einer mehrteiligen Serie beschäftige ich mit dem Leid von Kindern, die Gott in einem oder mehreren Bereichen kognitiv überdurchschnittlich begabt hat. Diese Überlegungen sind das Resultat von mehreren Einflüssen: Meine eigene Lebensgeschichte, die Erfahrungen der Vaterschaft und der intensiven Auseinandersetzung mit der Bildung meiner fünf Söhne. Dazu kommt eine Vielzahl von gelesenem Material vor allem über die theologische Anthropologie (Lehre über den Menschen) sowie ihrer Anwendung im beruflichen Kontext der Beratung. Ich hatte zudem die Gelegenheit selbst viele Kinder zu beobachten und im Bereich der kirchlichen Seelsorge Einblick in Lebensverläufe von Einzelnen und Familien zu erhalten. Die Überlegungen sind ein Zusammenzug dieser intensiven Reflektion und keine Abbildung eines Einzelfalls.

Vier Grundgegebenheiten des Menschseins

Um das nachfolgende Modell besser verstehen zu können, muss ich einige Grundgegebenheiten des Menschseins kurz darlegen. Es handelt sich um Vorüberlegungen, ohne die kein Mensch auskommt. Der Hintergrund für diesen Rahmen bildet die Bibel. Sie ist gemäss ihrem eigenen Zeugnis Selbstoffenbarung des Schöpfers, der den Menschen geschaffen hat.

  1. Begabung: Der personale Gott schuf den Menschen in seinem Bild. Darüber ist sehr viel geschrieben worden. Hier sollen zwei Aspekte hervorgehoben werden. Erstens übertrug Gott dem Menschen die Herrschaft über die übrige Schöpfung. Dies enthält den Gedanken der stellvertretenden Verwaltung in seinem Interesse. Zweitens beauftragte er den Menschen, die Erde zu entwickeln. Das heisst, er schuf den Kosmos in einem Zustand der Unfertigkeit. Jeder Mensch ist beauftragt, mit den ihm verliehenen Gaben einen Teil zu dieser Entwicklung beizutragen.
  2. Ungleichheit: Der personale Gott schuf die Menschen mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Begabungen. Darin bildet sich das Ihm eigene Prinzip der Einheit und der Vielfalt ab. Die Menschen sind mit vielen gleichartigen Eigenschaften ausgestattet (körperlich und geistig), gleichzeitig jedoch in einer Variation. Jedem Menschen ist ein einzigartiges Erbgut zugewiesen. Diese Ungleichheit ist von Natur aus gegeben und enthält in sich keine Aussage über einen unterschiedlichen Wert des Menschen. Jeder Mensch sollte seinen Teil zur Entwicklung beitragen und damit seinen Schöpfer ehren.
  3. Begrenzung: Gott ist unendlich erhaben über den Menschen. Er steht ausserhalb und über der Zeit. Er hat keinen Anfang und kein Ende. Er besteht aus sich selbst heraus und ist von niemandem abhängig. Er weiss um alles, selbst um das, was sein könnte. Wir Menschen sind hingegen endlich geschaffen. Wir verstehen – auch im ursprünglichen Zustand – nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit. Dies betrifft die Zeit, unsere Beschaffenheit, die Beschaffenheit des Universums. Am meisten trifft dies jedoch auf Gott selbst zu. Wir erkennen so viel von ihm, wie er uns offenbart hat und bei uns Verständnis schafft.
  4. Sünde: Der Hochmut des Menschen – verbunden mit dem Anspruch, Gott gleich zu sein – führte zu seinem Fall. Er verlor dadurch nicht die strukturellen Eigenschaften des Menschseins wie etwa Verstand, Wille und Gefühle. In geistlicher Hinsicht wurde er jedoch Gott, sich selbst, seinen Mitmenschen und der übrigen Schöpfung entfremdet. Zur ursprünglichen Ungleichheit und Begrenzung des Menschen kommt nun die vielfache Verzerrung der Sünde hinzu. Die Schöpfung ist nicht mehr in ihrem Originalzustand. Die eigenen Gedanken, Worte und Taten jedes Menschen verirren sich. Gott begrenzt diese Entartung.

Beeinflusser des Kindes

Jedes Kind ist immer von vier verschiedenen Seiten beeinflusst. Der Unterschied liegt im Wirkungsgrad auf Gedanken, Worte und Handlungen des Kindes. Zudem schränke ich das Blickfeld auf eine Dimension ein – auf die Wirkung der Mitmenschen. Ich klammere also die Wirkung des Schöpfers und seines Gegenspielers (dem Teufel) aus.

  1. Zuerst beeinflusst jedes Kind sich selbst. Es ist ständig sein eigener Gesprächspartner. Es denkt, bewertet und fühlt pausenlos seine Handlungen. Es ist ständig mit sich zusammen. Die Millionen von Gedanken und Bewertungen verdichten sich zu einem inneren Koordinatensystem, das sich im Hirn abbildet.
  2. Dann wird jedes Kind von Autoritäten beeinflusst. Unter Autorität verstehe ich einen Vorsprung in Lebenszeit und damit verbundener kognitiver und emotionaler Erfahrung. Dazu kommt eine institutionelle Rolle des Vorgesetzten, die von Gott so vorgesehen ist. Hier sind in erster Linie die Eltern sowie weitere wichtige Betreuungspersonen (Lehrer, Grosseltern) zu rechnen.
  3. Schliesslich hält sich das Kind ständig in gleichgerichteten Beziehungen auf. Das sind Geschwister und das Umfeld von Gleichaltrigen. Die Anzahl der Interaktionen übersteigt mit zunehmendem Alter diejenigen der Autoritäten.

Wirkungsweisen der Grundgegebenheiten und Beeinflusser

Jeder der vier Grundgegebenheiten beeinflusst die Entwicklung des Kindes.

  • Begabung und Reife des Kindes stellen eine Möglichkeiten und Grenzen auf. Das heisst, es kann hinter den Möglichkeiten zurückbleiben oder im Gegenteil zu viel wollen, d. h. über den Entwicklungsstand hinaus.
  • Die Ungleichheit führt dazu, dass das Kind im Vergleich zu anderen Kindern in einigen Gebieten besser und/oder schneller vorankommt. Zudem ist die Frage, welche Gebiete gemessen werden bzw. für das Weiterkommen des Kindes relevant sind (z. B. Noten in bestimmten Fächern).
  • Die Begrenzung des Menschen hat zur Folge, dass er wiederholt an die Grenzen seiner Möglichkeiten stösst. Jeder Mensch braucht Schlaf. Er kann nicht unbegrenzt leisten und aktiv sein. Zudem wird auch der klügste Mensch auf viele Fragen stossen, von denen er bestenfalls den Schimmer hat, dass sie existieren, jedoch keine Antwort darauf wissen.
  • Die Sünde des Menschen bewirkt zudem, dass das Kind aus sich selbst heraus und durch sein Umfeld – die Mitmenschen und die übrige Natur – auf vielfältige weitere Begrenzungen stossen wird. Auf der geistigen und körperlichen Ebene verursacht es selbst Störungen und wird durch andere gestört.

Diese Faktoren können in der Realität nicht immer säuberlich auseinander gehalten werden. Die Unterscheidung ist nichts desto trotz wichtig.

Auch die Beeinflusser wirken ständig auf das Kind ein.

  • Die Art und Weise mit sich selbst umzugehen – mit dem eigenen Verstehen, dem Willen und den Gefühlen – beeinflusst die Entwicklung des Kindes.
  • Die Autoritäten wirken ebenfalls ununterbrochen auf das Kind ein, natürlich in unterschiedlichem Mass.
  • Die gleichgerichteten Beziehungen sind ebenfalls als Aussenwirkungskräfte zu sehen.
  • Mit diesen Überlegungen ausgerüstet können wir nun an die Ausarbeitung eines Modells für die Entwicklung von begabten Kindern herangehen.