Warfield: Person und Zeit
Wer ist Benjamin B. Warfield (1851-1921)? Als jemand, der sich ausführlich mit Abraham Kuyper (1837-1920) und Herman Bavinck (1854-1921) beschäftigt hat – man sagt, dass mit dem Tod der drei Theologen eine Ära zu Ende war -, drängt sich das Kennenlernen des grossen Theologen aus Princeton auf. Das mit 600 Seiten deutlich umfangreichere Buch „The Theology of B. B. Warfield“ von Fred G. Zaspel steht bei mir im Gestell. Zuerst kam das kürzere Buch vom selben Autor „Warfield on the Christian Life“ an die Reihe. (Warfields Buch „Calvin and Calvinism“ gibt es übrigens als kostenfreien Dowload.) Zaspel stellt fest, dass es zwar einige Überschneidungen zwischen beiden Werken gebe. Im vorliegenden Buch könne er jedoch eine grössere Betonung auf die Behandlung einzelner Predigten machen – ein Versprechen, das er einlöst.
Einzelne Begebenheiten aus dem Leben uns vorangegangener Glaubensmänner sprechen direkt in unser Leben hinein. Bei Warfield hat mich besonders beeindruckt, dass er keine Kinder bekam und dass er seine Frau sein Leben lang nie länger als einige Stunden allein lassen konnte. Die durch ein starkes Gewitter während dem Europaaufenthalt ausgelöste nervliche Erkrankung verlangte dem Theologieprofessor gewiss viel ab. In Gottes Vorsehung wurden jedoch genau diese Lebensumstände benützt, um Warfield von zahlreichen Reisen und dem Einsitz in Kommissionen und Ämtern zurückzuhalten. Dies schuf den Raum für ein lebenslanges intensives Studium und erlaubte das Schreiben tausender von Seiten.
Wichtig ist es auch, die Zeit zu bedenken, in der Warfield lebte und wirkte, nämlich die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und sowie das anbrechende 20. Jahrhundert. Der überwiegende Teil war in den USA vom überschwänglichen, vorwärtsstrebenden Optimismus gekennzeichnet. „Der Stolz in die menschlichen Errungenschaften erreicht sein Allzeithoch.“ (134) Alles Übernatürliche wurde verbannt (157), immanente Erklärungen begannen zu dominieren (z. B. David Friedrich Strauss mit seiner diesseitigen Theorie des Lebens Jesu oder die durch Charles Darwin vorgetragene und von Exponenten wie Ernst Haeckel weiter entwickelte naturalistische Theorie über die Entstehung des Lebens). Das lässt die Betonung von Warfields Lebenswerk als Kontrast umso deutlicher werden. Christlicher Glaube und Leben sind übernatürlich; ein Christ ist ein „wandelndes Wunder“ (19). In die Theologiegeschichte eingegangen ist Warfield zwar als Verteidiger der Inspirationslehre. Doch er hat vielen weiteren Themen ebenfalls über 1000 Seiten gewidmet!
Der Schwerpunkt von Warfields Werk: Christologie
Warfield, so betont Zaspel, war in erster Linie die Christologe. Dort lag das Zentrum seines Interesses. Der christliche Glaube ist eine Religion, die sich „nach oben arbeitet“. Sie geht vielmehr von einem Gott aus, der sich in Gnade zu den Menschen niederlässt (31+43). Das Christentum ist eine Religion für Sünder; darin besteht ihre zentrale Botschaft. Deshalb gründet sich die christliche Lehre auf der Wertschätzung der Person und des Werkes Christi (51). Durch die Versöhnung in Christus löst sich der äusserliche Gegensatz zwischen einem zornigen Gott und dem sündigen Menschen auf (61). Noch eine Grundsatzaussage muss getroffen werden. Warfield betrachtete Theologie nicht als zusätzliche, optionale Dimension des christlichen Lebens, sondern als der Stoff dieses Lebens selbst (37).
Zum Aufbau des Buches
In neun Kapiteln durchschreitet Zaspel das weite Feld der Theologie Warfields, wobei er dieses Feld dreiteilt. In „Grundlagen“ behandelt er die Autorität von Gottes Wort, Erlösung, den neuen Stand des Gläubigen vor Gott, die Bekehrung als neue Ausrichtung des Lebens, den Heiligen Geist in seinem Wirken und die Heiligung. In „Orientierung“ wendet er sich dem wichtigen Thema des „Miserable Sinner Christianity“ zu (vielleicht der hilfreichste Teil im Sinne eines Korrektivs zur gegenwärtig zu optimistisch ausgerichteten Lehre des Menschen). Es folgt ein Einblick in seine Abhandlungen zur Kindschaft und zur Vorsehung. Im dritten Teil „Antwort“ geht es um Jesus als Vorbild, Gebet, Motivation und Ziele (auch dies ein hilfreiches Korrektiv zur aktuellen psychologisierten Diskussion unter Christen), um den guten Kampf und die christliche Hoffnung. Vielleicht wendet der eine oder andere schulterzuckend ein: Was von diesen Themen betrifft das christliche Leben? Wir sind, so bin ich überzeugt, viel zu stark von einzelnen Themen getrieben, anstatt die Gesamtzusammenhänge von Christus her zu deuten. Vielleicht ist dies die wesentlichste Erkenntnis des Buches.
12 Goldstücke aus dem Buch
Es lohnt sich, einzelne Goldstücke des Buches aufzuführen.
61 | Definition von Frömmigkeit (piety): Hilflose, zu Christus, dem Erretter, bewundernd aufblickende Abhängigkeit |
99 / 102 | Das christliche Leben ist ausschliesslich eine Auswirkung des Evangeliums. Heiligung ist keine Option, sondern Teil des vom Evangelium veränderten Lebens. Warfield kritisiert deshalb die Lehre der Passivität und des „suspendierten Willens“ scharf. |
104 | Es kann zwischen initialer bzw. definitiver, (fort)laufender und endgültiger Heiligung unterschieden werden. |
106 | Als Christ sind wir verantwortlich für die fortlaufende Heiligung! Warfield bezeichnet dies als „moment by moment struggle“. |
137 | Es steht uns an, durch die Schöpfung hindurch den Schöpfer zu sehen. |
143 | Die Bedeutung Jesu endet nicht mit der Bekehrung, sie beginnt dann erst richtig. |
160 | Warfield ist bestrebt sorgfältig zu differenzieren: Niedrigkeit und Demut ja, aber keine Selbstentwertung (auch nicht für die eigene Sache). |
169/170 | Schon Warfield beklagte, dass das Gebet durch rastlose Aktivität ersetzt worden sei. Man lese, während man dahin eile. Ob er unsere Handy-Kultur schon vorausgesehen hatte? |
179 | Das Gebet ist der angemessene und instinktive Ausdruck aus dem Herzen eines erneuerten Sünders. |
198 | Gottes Wort ist bleibende Quelle und Norm aller Theologie. Wer ausserhalb beginnt, befindet sich bereits auf häretischem Grund. |
220 | Aus der zukünftigen Perspektive heraus ist für dieses Leben festzustellen: Es kann uns nicht richtig zufriedenstellen. |
229 | Es gilt zwischen DO und DONE zu unterscheiden. Wir erfüllen unsere christlichen Pflichten, wie es dem Charakter der Erlösung entspricht: Im Lichte dessen, was Christus für uns getan hat. |
Unvergesslich
In Erinnerung bleibt die Botschaft des „miserable sinners life“. Warfield im Originallaut:
We are always unworthy, and all that we have or do of good is always of pure grace. Though blessed with every spiritual blessing in the heavenlies in Christ, we are still in ourselves just “miserable sinners”: “miserable sinners saved by grace to be sure, but ‘miserable sinners’ still, deserving in ourselves nothing but everlasting wrath.” (116)
“God richly forgives me and all believers every day, all our sins,” “for we sin much every day and deserve nothing but punishment.” (117)
… although he is a “miserable sinner” and, this side of heaven, will always be a “miserable sinner,” he is nonetheless truly perfect in his status before God in Christ while awaiting his full transformation to perfection in the resurrection. (115)
Erst das Bewusstsein dieser beiden Tatsachen öffnet uns die Augen für die Grösse seiner Gnade.