Eine Jahrhundertrede
Die Rede von Alexander Solschenizyn zu den Abschlussfeierlichten der Universität Harvard im Jahr 1978 zähle ich zu den wichtigsten Reden des 20. Jahrhunderts. Sie lässt sich über Youtube anschauen und nachlesen. Derjenige, der sein eigenes Land, das er liebte, einer unerbittlichen Kritik unterzog, scheute sich auch im Westen nicht, die Wahrheit mutig zu bezeugen. Ich habe wichtige Aussagen aus der Rede zusammengefasst.
Im ersten Teil seiner amerikanischen Memoiren – Solschenizyn emigrierte nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion über Deutschland und die Scheiz in die USA – beschreibt der Schriftsteller seine Erinnerungen an Vor- und Nachgeschichte der Rede. Die Zwischentitel habe ich hinzugefügt.
Zusammenfassung der Beobachtungen westlicher Schwäche
Im Winter des Jahres 1978 flatterte plötzlich die Einladung herein, eine Rede bei den Abschlussfeierlichkeiten an der Harvard University zu halten. Natürlich hätte ich ablehnen können, wie ich es einmal schon im Jahre 1975 getan hatte, von Hunderten anderen Einladungen ganz zu schweigen. Doch es handelte sich diesmal um einen wirklich bemerkenswerten Ort und meine Rede würde wohl laut genug in ganz Amerika erklingen. Nachdem ich seit zwei Jahren keine Auftritte dieser Art hatte, ging mein Temperament mit mir durch. So nahm ich die Einladung an.
… Viele Jahres in der Sowjetunion und bereits vier Jahre im Westen griff ich den Kommunismus an, schlug auf ihn ein, hackte nach ihm, doch hatte ich während dieser Zeit auch gefährliche, Besorgnis erregende Tendenzen des Westens gesehen und wollte hier eben darüber reden. All meine Beobachtungen westlicher Schwächen sollten zusammengefasst werden.
Das werden sie ihm nie verzeihen
Die Rede wurde von mir ausnahmsweise schriftlich vorberietet, sie ins Englische zu übersetzen fiel Irina Ilowajskaja zu. Da sie den Westen gut kannte, war sie ausgesprochen beunruhigt und beschwor mich, einige Gedanken und Ausdrücke zu entschärfen, was ich allerdings ablehnte. Danach übersetzte sie und beim Abtippen des Textes sagte sie immer wieder zu Alja (der Frau Solschenizyns) mit Tränen in den Augen: ‚Das werden sie ihm nie verzeihen!‘
Mein Auftritt wurde beizeiten angekündigt und wie man später erklärte, erwartete man von mir vornehmlich Dankesbezeugungen eines Flüchtlings an den grossen atlantischen Staat der Freiheit, das Besingen seiner Macht und jenen Tugenden, die in der Sowjetunion fehlten. Vor allem war man auf eine antikommunistische Rede eingestellt. …
Eine Rede im Regen
Am nächsten Tag nahmen alle Platz unter freiem Himmel, zunächst die Absolventen nach ihren Fächern, dann die Gäste, viele standen im Kreis, insgesamt waren es wohl an die 20000 Menschen, wie es hiess. … Zu meinem Erstaunen wurde ich mit Ovationen im Stehen begrüsst; offenbar hielt mein Mythos hier noch an. … Bald war ich auch mit meiner Rede an der Reihe, und da begann es ziemlich kräftig zu regnen. Über uns im Präsidium wurde ein Schirmdach gespannt, aber die ganze Versammlung, die unter den Regen kam, blieb sitzen, manche machten ihre Regenschirme auf, andere hatten keine und ich wunderte mich während meiner Rede, wie sie trotzdem einfach sitzen blieben. Die Ansprache dauerte wegen des Übersetzens eine Stunde, doppelt so lange, und die Lautsprecher übertrugen sie in jede Ecke des Universitätshofes.
Ferner wunderte ich mich darüber – was ich überhaupt nicht erwartet hatte -, wie oft und nachhaltig man mir applaudierte, insbesondere als ich von der Notwendigkeit sprach, vom Materialismus Abstand zu nehmen. Das freute mich natürlich. Gelegentlich pfiff man, auch, wie sich herausstellte, ein Zeichen des Beipflichtens, aber es kam noch so ein ‚s-s-s‘-Laut, wie man bei uns jemandem bedeutet stillzuhalten, hier war das ein Zeichen der Missbilligung. (Später erfuhr ich, dass auf diesem Campus während des Vietnam-Krieges die heftigsten Proteste stattgefunden hatten.)
Der Hagel der Kritik
Nach Beendigung der Rede erbat sich die Universität den Text und liess ihn sofort vervielfältigen, in über 2000 Exemplaren. So begann eine Orgie des Zitierens von aus dem Zusammenhang gerissenen Stellen, in den Vereinigten Staaten und weltweit. Zwölf Länder schickten über 5000 Anfragen wegen des Textes nach Harvard. … zwei Monate lang brachten die aufgeregten amerikanischen Zeitungen Reaktionen auf das Gesagte, ausserdem erreichten mich viele Briefe von Amerikanern.
… Es nahm mich gar nicht wunder, dass die Zeitungen mich beschimpften (denn ich hatte ja gerade die Presse scharf angegriffen), nein, sondern ich war höchst erstaunt darüber, dass alles Wesentliche vollständig ausgeklammert wurde (eine bewunderungswürdige Eigenschaft der Massenmedien) und dass etwas erfunden wurde, was in dieser Rede gar nicht stand. Man schoss und schoss sich auf den Ort ein, an dem man mich erwartete, an dem ich mich jedoch gar nicht befand.
Keine offene Gesellschaft
… Vor dem Auftritt in Harvard hatte ich naiverweise geglaubt, dass ich mich in einer Gesellschaft befand, in der erlaubt war, zu sagen, was ich denke, ohne diese Gesellschaft zu beweihräuchern. Aber ich lernte nun, dass auch die Demokratie Schmeicheleien erwartete. Solange ich also dazu aufrief, in der Sowjetunion ‚nicht mit der Lüge zu leben‘ – bitte schön, sobald ich aber aufrief, in den Vereinigten Staaten ‚nicht mit der Lüge zu leben‘ – gehen Sie doch zum Teufel!
… Aber selbst in dem ersten einstimmigen Chor der Rügen klang die Einschätzung der Rede nicht als einer politischen Äusserung an, sondern einer religiösen, und sie wurde in Zusammenhang mit biblischen Propheten und amerikanischen Puritanern genannt…
Rückmeldungen aus dem amerikanischen Volk
Endlich schaffte es auch eine Harvard-Absolventin, Wanda Urbanska, in eine Zeitung durchzukommen: ‚Er stiess viele unserer Vorstellungen über uns selbst und über die Welt um, die uns Harvard so sorgfältig anerzogen hatte. Wieso erlaubt sich ein Zeitungskritiker, in unserem Namen zu antworten? Solschenizyn forderte uns heraus, rüttelte uns wach, und er wird bei uns bleiben.’
Jetzt konnte man wiederum viele Bekenntnisse lesen, die ein ganz anderes Amerika widerspiegelten als jene arroganten Schichten von Washington oder New York: ‚Im Grund wissen wir, dass er Recht hat … Wir sind schlechter als das, was er sagt, wenn wir unsere Laster nicht direkt betrachten können und sie zu kurieren versuchen … Dieselbe Schwäche, deren er uns bezichtigt, hindert uns daran, ein Arzneimittel dagegen einzunehmen .. Wir kämpfen um Geld und begreifen die wahren Werte des Lebens nicht … Wir verlieren die geistige Treue gegenüber der Freiheit … An die Stelle einer diktatorischen Regierung haben wir die Autorität von Gruppen mit besonderen Interessen gesetzt. Viele Amerikaner teilen mit Solschenizyn das Fehlen der Begeisterung über die Demokratie. Auf unsere Banknoten schreiben wir: ‚In God we trust‘ – entweder müssen wir das beweisen oder die Aufschrift entfernen .. Wird sind eine geistig kranke und oberflächliche Gesellschaft. Sie (die Zeitungen – A. S.) verstehen ihn nicht, weil er die Wurzel der Probleme anpackt. Ihn zu missachten ist eine Fehler … Es gibt kein Land mit gesundem Menschenverstand, das unsere Kriminialität und Drogen, Pornografie, Sex als Mittelpunkt der Gespräche, Entertainment der Kinder annehmen wollte. Wir erinnern an Sodom und Gomorrha. Die Freiheit, die sich selbst überlassen bleibt, kann das Chaos hervorrufen. Alles, was er gesagt hat, ist wahr, von unserer Feigheit bis zu der unerträglichen Musik … Eine Gesellschaft, die es erlaubt, dass sich die Technologie im ethischen und moralischen Vakuum entwickeln darf, ähnelt einem unglückseligen Patienten, dessen Leben durch künstliche Nieren und Lungen erhalten wird … Seine brillante und mutige Rede schnitt wie ein Schwert durch das weiche Amerika! …
Alexander Solschenizyn. Zwischen zwei Mühlsteinen. Mein Leben im Exil. Herbig: München, 2005. (320-330)