Buchbesprechungen: Eine monumentale Kulturkritik des Westens und des Evangelikalismus

In loser Folge verweise ich auf jeweils fünf Werke, die unsere Weltsicht und das Verständnis unserer Zeit schärfen.

David F. Wells hat eine monumentale Kulturkritik des Westens und des Evangelikalismus geliefert. Ich habe zu den sechs Bänden ausführliche Besprechungen geschrieben.

No Place for Truth: Davids Wells Buch “No Place For Truth” schlug vor 20 Jahren wie eine Bombe zumindest im konfessionellen Teil der Evangelikalen in den USA ein. Wells gelang es, die gesellschaftlichen Entwicklungen einzufangen und deren Einfluss auf die evangelikalen Gemeinden zu beschreiben Es geht insbesondere um den auf sich selbst fokussierten Menschen, der gleichzeitig in höchstem Grade vom Markt der Gefühle und Erwartungen abhängig ist. Als Ausgangspunkt wählt Wells Wenham, eine kleine Ortschaft in Massachusetts mit puritanisch-kongregationalistischer Gemeinde. Es handelt sich um ein ruhiges Dorf in ländlicher Schönheit. Die stabilen psychologischen, ökonomischen und organisationalen Grenzen wurden durch die Moderne umgestossen. Es entstand ein tiefes Gefühl der Unbeständigkeit, eine Transition von einem klar begrenzten zu einem Leben, das wenig Begrenzungen kennt und Bürgern, die lose mit Land und Zeit verbunden sind. „Die Normen, Werte, Prinzipien, die einst andauernd und absolut erschienen, scheinen jetzt unsicher und kurzlebig.“ Alles, was einst als sichere moralische Leitplanken gedient hatte, hatte sich aufgelöst. Es ist eine dunkle und verwirrende Welt, die mittels Technologie und Marketing gebaut worden war (44). Wenn eine Dorfbewohnerin niedergeschlagen war, ging sie in die Kirche, um zu beten. Ihr Pendant würde heute in der gleichen Lage in das Einkaufszentrum gehen, um sich zu zerstreuen. „Sie wissen mehr, aber sie sind nicht zwingend weiser.“

God in the Wasteland: Wells legte 1994, nur ein Jahr nach dem Erscheinen von „No Place for Truth“, mit „God in the Wasteland“ nach. Es ist das Produkt eines Sabbaticals. Im ersten Band hatte er zwar erklärt, warum Theologie aus der Kirche verschwunden ist. Er habe aber noch nicht beschrieben, wie diesem Umstand Abhilfe geschaffen werden könne (ix). Wiederum wählt Wells im Prolog einen narrativen Ausgangspunkt. Dieser ist allerdings kurz gehalten. Ins Nachdenken gebracht hatten ihn zwei Aufkleber auf einem Wagen, der ihn waghalsig überholt hatte. Auf dem einen Kleber war ein Lokalpolitiker abgebildet, auf dem anderen Jesus. Sie stehen sinnbildlich für die stille Revolution, die sich innerhalb des Evangelikalismus vollzogen hatte. Inneres und Äusseres haben sich grundlegend gewandelt (6). Das Resultat dieses Wandels: Ein verlorenes Zentrum, nämlich Gott (14). Das Anliegen hinter dem Buch ist eine Klärung der Beziehung von Christ und Kultur (28). Ist der Wandel der Moderne nur ein Thema neben anderen oder das Generalthema, das alle Aspekte des Lebens betrifft? Wells ist von der letzten Möglichkeit überzeugt. Die Moderne in sich aufgenommen zu haben bedeutet nämlich, im biblischen Sinne „weltlich“ zu sein. „Gottes Wahrheit ist zu distant, seine Gnade zu normal, sein Gericht zu gutartig, seine Evangelium zu einfach, und der Christus zu allgemein“ (30).

Losing Our Virtue: Wird die Kirche die Kraft haben ihren moralischen Charakter zu erneuern? Der Autor selbst ist überzeugt, dass noch keine Zeit so reif für den christlichen Glauben gewesen sei (19). Wells erkennt Parallelen zur Situation vor der Reformation: Fehlendes Vertrauen in Gottes Wort, fehlendes Verständnis für die Ernsthaftigkeit der Sünde, fehlender Sinn für die Genügsamkeit von Christi Tod (28-30). Das für den Evangelikalismus zum avancierte Rezept lautet: Wir müssen ein neues Konzept schreiben, um die Menschen ausserhalb unserer Gemeinde zu erreichen. Wir müssen uns vermehrt sozial engagieren. Wells geht einen anderen Weg. Er fordert die Erneuerung der Moral, also eine Gesundung des Menschen durch die Ausrichtung an den objektiven Normen Gottes. Damit meint er keinen psychologischen Prozess, sondern eine geistliche Erneuerung. Nur diese Umkehr wird dem Volk Gottes die Kraft geben, um seinem Gott dienen und die eigenen Götter zu entsorgen.

Above all Earthly Pow’rs: Was ist die zentrale Frage des Buches? Wells formuliert sie folgendermassen: Wie sieht eine biblische Christologie aus einer Welt, in der Rechtgläubigkeit keinen Platz hat, die Idee der Wahrheit abgeschafft ist, Weltanschauungen kollabiert sind und sich Religionen sowie neue Formen von Spiritualität sich Seite an Seite tummeln (90)? Ausgangspunkt ist diesmal der 11. September 2001. Der Begriff des Bösen war mit einem Schlag wieder in das westliche Bewusstsein gerückt worden. Wells hatte bereits 1984 eine herkömmliche Christologie mit dem Titel „The Person of Christ“ verfasst. Diesen zweiten Anlauf unternahm er auf dem Hintergrund der tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen innerhalb des Evangelikalismus. Er schlägt gleich zu Beginn einen wichtigen Pflock ein. Es gibt nichts, was die Grösse Christi ersetzen könnte, auch in der Moderne nicht. Das wird im Titel „Above all Earthly Pow’rs“ angedeutet. Wells meint damit am Ende seiner literarischen Odyssee angekommen zu sein.

The Courage to Be Protestant: In den Nachkriegsjahren haben sich die Evangelikalen um zwei Kernüberzeugungen gesammelt, nämlich die volle Autorität der inspirierten Schrift und die Zentralität von Jesu stellvertretendem Sühnetod (S. 5). Dem folgte eine anhaltende Schwächephase durch steigende Gleichgültigkeit gegenüber biblischer Lehre. „Das Christentum wurde zunehmend auf private, innere, therapeutische Erfahrung reduziert.“ (S. 8) Zudem wurde der Glaube von der lokalen Gemeinde losgelöst. „Der Glaube wurde individualistisch, selbst-fokussiert und konsumorientiert“ (S. 11). Das zweite große Segment seit den 1980er-Jahren bilden die sogenannten „Marketers“. Sie holten mit dem Argument „wir behalten die alte Botschaft, verpacken sie einfach neu“ Businessstrategien in die Kirche. Wells vergleicht Gemeinden mit den Einkaufszentren: Wir holen uns, wann wir es wollen, das, wozu wir gerade Lust haben. Dies bereitete den Boden für eine nächste Generation, die Emergenten. Sie sind besonders skeptisch gegenüber Macht und Strukturen. Sie schließen sich in losen Netzwerken zusammen. Was von den „Marketers“ inhaltlich ausgehöhlt worden war, besetzen sie mit einem Sammelsurium von neuen Inhalten. Sie experimentieren mit anderen Gottesdienstformen. Die Diagnose stimmt nachdenklich: „Ich weiß nicht, was die evangelikale Zukunft sein wird, aber ich bin sicher, dass der Evangelikalismus keine gute Zukunft hat“ (S. 21). Zumindest dann, wenn keine Kursänderung gelingt.

God in the Whirlwind: Wells geht zurück zu seinem Kernargument, dass Gott an Gewicht verloren habe. Darum macht er sich daran, eine „gewichtige“ Sicht von Gott zu entwickeln und den Blick seiner Leser eben dafür zu gewinnen. Nur durch die Rückgewinnung einer ausgewogenen Perspektive des heilig-liebenden Gottes könne sich unser Leben nachhaltig verändern. Es geht, wie es der Titel ankündigt, um eine Neuorientierung. Wells These lautet: Im Westen liebten wir den Gedanken, dass Gott Liebe ist, und wir weisen den Gedanken an seine Heiligkeit zurück. Die Absicht des Buches besteht deshalb darin, Gott in der Einheit und Verbundenheit von Heiligkeit und Liebe darzustellen. Er verkörpert gleichzeitig Liebe und Heiligkeit. Wir werden bei ihm nie Liebe ohne Heiligkeit oder Heiligkeit ohne Liebe antreffen (1387).