Die Geschichte ist Verunsicherungswissenschaft in vielfacher Hinsicht. Wann ist ein Volk ein Volk? Welche Rechte sind damit verbunden? Welche inneren und äusseren Grenzen sind berechtigt? Dürfen wir stolz auf unsere Nationalgeschichte sein? Wie gehen wir mit dunklen Phasen aus Vergangenheit – zum Teil mit Strahlkraft in die Gegenwart hinein – um? In noch schwierigeres Gelände begibt man sich, wenn man zu fragen beginnt: Welche Ereignisse (und deren Bewertungen) sind historisch wasserdicht und glaubwürdig? Was ist den Mythen und Legenden zuzurechnen? Noch einen Schritt weiter gefragt, gelangt man an die Frage zur Grundfrage: Ist nicht jede Beurteilung von geschichtlichen Ereignissen in sich relativ, das heisst sozial konstruiert.
So griff ich in einer Buchbesprechung zum längst vergriffenen und ausser Betrieb gesetzten Lehrmittel zur Schweizer Geschichte, "Wir wollen frei sein", einen Zeitungsartikel auf. Ich habe eine These dafür, warum es kaum neuere Literatur bzw. lesbare Übersichten zur Schweizer Geschichte gibt:
Gemäss Dogma des Säkularismus, Leitreligion des Westens, ist die Nationalgeschichte tabu. Völker sind Konstrukte und überdies Saatbeete von Zwiss, Hass und Arroganz. Es ist deshalb untersagen (gemäss politischer Korrektheit), auf das eigene Land und die Geschichte stolz zu sein. Der Säkularismus beinhaltet eine Zukunfts-Utopie: Das friedliche Miteinander eines Welteinheitsstaates, mit sorgsamem Einfluss der knappen Ressourcen (Umweltreligion). Jede Ecke der Welt hat ihre eigenen Mythen, die sie gerne pflegen darf. Keine der Religion darf jedoch Wahrheit für sich beanspruchen. Auch Widersprüche und Abweichungen zum Erleben müssen stehen gelassen und ausgehalten werden.
So erstaunte es mich keineswegs, bei der Besichtigung des Schlachtdenkmals von Morgarten, einer für die Nationalgeschichte bedeutsamen Begebenheit, im anlässlich der 700-Jahr-Feier aufgestellten Pavillon ein übers andere Mal zu lesen:
Was am Morgengarten wirklich geschah, wird wohl nie geklärt werden und ist letztlich auch gar nicht so wichtig. Von viel grösserer Bedeutung ist das, was aus 'Morgarten' gemacht wurde: ein faszinierender Mythos, der ein wichtiger Teil unserer Kultur ist und unsere Identität bis heute prägt.
Es zählt also nicht das, was wirklich war (historische Realität), sondern das, was wir daraus machen. Der erkenntnistheoretische Skeptizismus schlägt voll durch. Hauptsache, es ist ein seelentröstender Mythos oder enthält eine Morallektion für uns heute? Die Parallelen zum zeitgenössischen Umgang mit der Bibel sind unübersehbar.
Geschichtsbilder sind häufig vom Zeitgeist beeinflusst, können sich verändern und sich dank neuer Erkenntnis als falsch oder unwahrscheinlich herausstellen. Sie sind oft nur der neueste Stand des Irrtums.
Dass bei der Schlacht von Morgarten manches mythisch überhöht wurde, mag wahr sein. Tragisch ist die faktische Ablösung vom Kontinuum von Zeit und Raum.
Die Geschichten lassen sich historisch nicht belegen. Ihre Symbolkraft aber hat die Identität ganzer Generationen von Schweizerinnen und Schweizern wesentlich geprägt. Geschichte und Mythos – das sind zwei gleichberechtigte Seiten derselben Medaille.