Der dänische Literat Sören Kierkegaard hat in seinem Frühwerk „Entweder – oder“ (1843) ein dreistufiges Modell hinterlassen: Das Leben in drei Stadien – dem Ästhetischen, dem Ethischen und dem Religiösen. Gemäss seiner Auffassung ist der Wechsel von der einen in die andere Stufe eine grundsätzlich neue Dimension des Daseins und nicht mehr umkehrbar.
Die ästhetische Persönlichkeit „ist von ihren unmittelbaren Bedürfnissen bestimmt … Der ästhetisch orientierte Mensch stellt sich als Einzelner gegen einengende Moralvorstellungen, schüttelt alle verpflichtenden Bande ab und sucht immer wieder neue Reize um sich selbst zu spüren.“ Sein Streben zielt auf sinnliche Bedürfnisse wie Gesundheit, Schönheit und Lustgewinn. Von dieser Lebensweise sind die meisten Menschen geprägt.
Im ethischen Stadium betrachtet der Einzelne „seine eigene Entwicklung als Ziel und Aufgabe“. Er ist nicht mehr dem Diktat bloßer Stimmungen unterworfen. „Auch die eigenen Möglichkeiten haben nicht mehr den Charakter der Beliebigkeit, sondern werden für das Individuum zu den Voraussetzungen, seine selbstgewählten Aufgaben zu erfüllen. … Die eigenen Veranlagungen und Eigenheiten werden nicht mehr als unabänderliche Naturtatsache hingenommen, sondern als Herausforderung.“ Manche durch eine Krise (krisis – Entscheidung) gereifte Menschen betreten diese Phase.
Die dritte Phase – so spitze ich selbst zu – ist nur durch die Wiedergeburt und die Kraft des Heiligen Geistes möglich. Sie löst den Menschen aus seiner eigenen Verkrümmtheit (Luther) heraus, bekleidet ihn mit der fremden Gerechtigkeit von Christus und lässt in ihm das Verlangen wachsen, zu seiner Ehre zu leben.
Ich bin mir bewusst, dass meine Frau dank Gottes unverdienter Güte aus dem Glauben heraus leben darf. Beim zweiten Dialogpartner handelt sich um die autobiografischen Schriften der jüdischen, später zum Katholizismus konvertierten Philosophin Edith Stein. Sie schrieb über Kindheit, Jugend, Studium und ihr Leben im Jahr der Machtergreifung Hitlers (1933). 1942 ist sie in den Gaskammern von Auschwitz umgekommen. Es ist sehr berührend, über das Leben ihrer Vorfahren zu hören, zunächst von ihren Ur- und Grosseltern.
Mit offenem Auge für die Nöte anderer
Die Urgroßeltern lebten als alte Leute in großer Armut, aber sie wußten immer noch etwas für Ärmere zu ersparen. Wenn die Urgroßmutter Kaffee kochte – damals noch eine Kostbarkeit –, legte sie jedesmal ein paar Bohnen beiseite und sammelte so die ganze Woche. Jeden Freitag bekam eine arme Frau das Gesammelte. Alle abgetragenen Sachen aus dem eigenen Haushalt und aus denen der verheirateten Töchter wurden sorgfältig ausgebessert, um sie an Arme zu verschenken. Bei diesen Näharbeiten mußten die kleinen Enkelinnen tüchtig helfen. Die Großmutter versammelte sie um sich, leitete sie zur Arbeit an und wachte streng darüber, daß alles mit der größten Sorgfalt gemacht wurde. Von 6 Jahren an mußten die Kinder Säume nähen, die größeren bekamen die langen Nähte anvertraut. Ganze Aussteuern für befreundete Familien wurden in dieser Nähschule gearbeitet.
Enge Zusammenarbeit im Tandem als Ehepaar
Als die Großeltern heirateten, eröffneten sie eine kleine Kolonialwarenhandlung. Nach der Anschaffung der Waren blieben ihnen als »Barvermögen« 25 Pfennige. Das Geschäft richtete sich durch den Fleiß und die Tüchtigkeit beider in kürzester Zeit sehr gut ein. Alle Unternehmungen berieten sie gemeinsam, die Bücher wurden immer von der Großmutter geführt; ohne sie zu befragen, hätte der Großvater nichts unternommen.
Um Rat gefragt
Zu meiner Großmutter ging man, wenn man ernsten Rat brauchte: nicht nur Mann und Kinder und Geschwister, auch viele Fremde. Adlige Damen von den großen Gütern der Umgegend fuhren oft in ihren Wagen vor, um sie zu besuchen und rechneten es sich zur Ehre an, sie als Freundin zu haben.
Öffentlich bekannt als besonders vertrauenswürdige Person
Nicht nur in dem kleinen Städtchen, wo er wohnte, sondern in ganz Oberschlesien war er hochgeachtet. Das größte Vertrauen genoß er bei den Bauern der Umgebung, die am Sonntag zur Kirche und am Mittwoch zum Wochenmarkt in die Stadt kamen und dabei ihre Einkäufe machten. Einigemal brachte ihm ein Bauer Geld zum Aufheben. Der Großvater nahm es und sagte: »Wart', ich will dir einen Schuldschein dafür geben.« Er brachte den Schein, der Bauer betrachtete ihn aufmerksam und gab ihn dann zurück: »Heben Sie mir den mit auf.«
Von ihrer eigenen Mutter, dem 4. von 15 Kindern, schrieb sie ebenfalls Dinge, die mich sehr an meine Frau erinnern. (Ihre Mutter musste, nachdem ihr Mann durch einen Hitzschlag ums Leben gekommen war, selbst für das Auskommen der grossen Familie sorgen und baute einen Holzhandel auf.)
Zäher Wille
Als meine Mutter 10 Jahre war, wollte sie waschen lernen. Obgleich man sie auslachte, stand sie nachts mit auf und ging mit an die Arbeit. Weil sie sich noch nicht darauf verstand, rieb sie sich die Finger wund, und die beißende Seifenlauge verursachte heftige Schmerzen; aber sie biß die Zähne zusammen und hielt aus, und das nächstemal war sie wieder mit dabei. Wenn neue Angestellte (oft männliche Verwandte) im Geschäft anzulernen waren, wurden sie meiner Mutter anvertraut. In dem arbeits- und kinderreichen Hause ging es sehr fröhlich zu. Es wurde viel gescherzt, gelacht und gesungen. Besonders, wenn die studierenden Brüder und Vettern zu den Ferien nach Hause kamen, und bei den großen Familienfesten, Geburtstagen und Hochzeiten, war bewegtes, lustiges Leben.
Selber säen und ernten
Bis heute macht es meiner Mutter die größte Freude, selbst zu säen und zu ernten und von der Ernte reichlich andern zu schenken. Sie hält dabei an der alten jüdischen Sitte fest, daß man die ersten Früchte von jeder Sorte nicht selbst ißt, sondern verschenkt. (Allerdings kann sie sich nicht immer entschließen, sie an wirklich Arme zu geben, wie es eigentlich sein sollte, weil sie dabei mit der großen Liebe zu ihren Blutsverwandten, besonders zu ihren Geschwistern, in Konflikt kommt.)
Geschäftstüchtigkeit
Sie konnte ausgezeichnet rechnen, sie besaß den richtigen Blick dafür, was ein »Geschäft« ist, Mut und Entschlossenheit, um im rechten Augenblick zuzugreifen, und doch genügend Vorsicht, um nicht zuviel zu wagen; vor allem im höchsten Maß die Gabe, mit Menschen umzugehen.
Die erste, die anpackt
Sie verhandelte mit Kunden: meist Tischlern, Stellmachern, Holzbildhauern, Bauunternehmern, und mit Lieferanten: Großhändlern, Großgrundbesitzern, polnischen Juden, die als Zwischenhändler kamen; sie maß und verrechnete Bretter, und wenn eine Wagenladung schnell abgeladen werden mußte, so kletterte sie gern auf den Wagen und schob mit den Arbeitern um die Wette schwere Bohlen hinunter.
Leben im Bewusstsein des Segens von oben
Meine Mutter ist immer wieder ihrem guten Herzen gefolgt; manchmal hat sie den »faulen Kunden« noch Geld hinzugegeben, wenn sie in Not waren. Sie ist viel betrogen worden und das Geschäft hat immer mit großen Verlusten gearbeitet. Trotzdem ging es voran. Meine Mutter hat das immer dem Segen von oben zugeschrieben.
… Meine Mutter dagegen warnte immer davor, zu früh zu jubeln, faßte nicht gern Pläne auf lange Sicht und sprach von etwas Künftigem fast nur mit dem Zusatz: »Mit Gottes Hilfe« oder »Wenn Gott will«.
Gastfreundschaft
Meine Mutter ließ nicht gern einen Gast unbewirtet aus dem Hause gehen, aber sie liebte es auch nicht, »viel herzumachen«; es sollten sich alle zu Hause fühlen und nicht den unbehaglichen Eindruck haben, als würde nun ihretwegen alles auf den Kopf gestellt.