Meine Frau unterrichtet seit acht Jahren offiziell unsere Söhne. Natürlich reicht ihre Lehrtätigkeit schon weiter zurück, denn Kinder lernen ja nicht nur im formellen Unterricht. Es ist genial, dass sie ihre Lehrgabe in die nächste Generation investiert. Ich hatte damals die Idee aufgebracht und bin heute ausserordentlich dankbar für diesen Weg.
Vor einiger Zeit las sie ein kleines Buch. Elisabeth Müller (1885-1977), Lehrerin, Ausbilderin angehender Lehrer und Kinderbuchautorin (bekannt vor allem durch die Verfilmung „Die sechs Kummerbuben“) hat ihre Lebenserinnerungen im Lehrberuf festgehalten. In „Türen gehen auf“ (Gute Schriften, Bern 1958) schreibt sie über ihre Zeit in einem Emmentaler Dorf (1905-1909) und ihre Zeit in einem Waisenheim.
Zunächst zitiere ich drei Ausschnitte, in der ihr Scharfblick für den Lehrberuf durchschimmert.
Verblasste Ideale
Erzieher ernüchtern oft über die Jahrzehnte ihres Wirkens:
Die Kraft langt einfach nicht, mehr als das halbe Leben lang, 30 bis 40 Jahre hindurch in diesem Kampfe zu stehen. Die Erzieher-Ideale, die der junge Mensch einst mit sich gebracht hatte, stiessen heftig zusammen mit den meist unabänderlichen Nachteilen, die das Zusammenleben von einerseits zu vielen Zöglingen und anderseits zu verschiedenartigen Mitarbeitern mit sich bringen. – Die Ideale verblassen allmählich, die Kampf-Energie wird durch Niederlagen geschwächt, die Kraft vermindert sich, während sich der Aufgabenkreis gleichbleibt oder gar noch erweitert. So entwickelt sich allmählich eine Art Mechanismus; ein Zahnrad greift ins andere, die Sache ‚läuft‘, und eben dieses möglich reibungslose ‚Laufen‘ gibt dem Menschen Befriedigung, so dass er allmählich selber glaubt, er habe es erreicht, es müsse so sein.
Fester Halt und selbständige Schritte
Welche Beobachtungsgabe Müller eigen war, sehen wir etwa bei diesem Beispiel:
Mir ist ganz besonders noch eine Bäuerin im Sinn, die sich mir mit ihrem ganzen Wesen so einprägte, dass ich sie geradezu als ‘Urmutter’ bezeichnen möchte. Ihr jüngstes Kind, das sie mir damals herbrachte (Müller war die neue Dorflehrerin), war so sehr ‘noch ein Stück von ihr’, dass man die grösste Mühe hatte, es von ihr loszulösen und ihm begreiflich zu machen, dass es für sich selbst auch ein Menschlein sei. Beständig war es der Mutter nachgetrippelt, das kleine Anneli, im Haus, im Garten, auf dem Acker. Und nun sollte es auf einmal zur Schule gehen, allein, ohne Mutter. Dort wurde es hie und da vom Heimweh derart überfallen, dass es ganz still und hilflos zu weinen anfing. Was sollte ich mit ihm anfangen? Nichts, gar nichts konnte seinen Jammer stillen. ‘Geh du heim, Anneli’, meinte ich schliesslich, als mir kein Trost mehr einfallen wollte. Da aber sah es mich an, und mit tränenerstickter Stimme brachte es hervor: ‘Ich darf nicht, Mutter hat gesagt, erst am Mittag. Wann ist Mittag?’ Ich habe miterlebt, mit welcher Weisheit diese nicht mehr junge Mutter ihr letztes Kindlein von sich loslöste und zu einem selbständigen Menschlein erzog. Nichts von Verweichlichung, wie man es zuerst hätte meinen mögen. Am liebsten hätte sie ja dieses Kind, das einst ihres Alters Trost werden sollte, nicht von ihrer Hand gelassen. Aber sie erzog sich selbst, indem sie das Kind selbständige Schritte tun liess. Diese Frau hat wohl kaum je ein Buch über Erziehung gelesen. Sie überliess sich ihrem richtigen Gefühl, ihrem urtümlichen Sinn für das richtige Mass der Dinge. Sie hatte viel angeborenen Menschenverstand, ein merkwürdigt klares und reifes Urteil und war begabt mit göttlichem Humor. Sie verzog kein Fältlein in ihrem Gesicht, wenn sie ihren Mutterwitz spielen liess, und eben das machte den Witz zum Witz! Dazu war alles durchsonnt von Wärme, die aus der Güte ihres Herzens zu den Augen hinaus leuchtete. … Was sie zur wahren Mutter machte, war eben ihr Geheimnis, nicht nur Mutter ihrer Kinder zu sein, sondern Mutter all derer, die ihrem Schutze anbefohlen waren. An ihrem Tisch hätte niemand zu essen begonnen, ehe sich nicht die Mutter hingesetzt hätte, und ihr Kind, das neben ihr sass, musste mit dem Essen warten, bis alle andern in der Ordnung versorgt waren.
Wenn das Leitseil der Erziehung gelockert wird
Es gibt nach zwei Seiten falsch verstandene Autorität.
Mehr und mehr musste ich mich mit Erziehungsfragen beschäftigen. Es kamen die Jahre, da sich die Folgen der zu starken Lockerung des Leitseiles bemerkbar zu machen begannen. Ich selber bin ja mit Begeisterung dabei gewesen, als die grossen Pädagogen und Psychologen uns lehrten, besser in des Kindes Seele zu lesen. Ich selber half nach Kräften mit, den Zwang zu verwerfen, durch den die falsch verstandene Autorität vom Kind absoluten Gehorsam, absolute Unterwerfung verlangt hatte. Ich selber jubelte mit, als man sich zu kleinen pädagogischen Gruppen zusammentat, um die Frage zu studieren, wie man dem Kinde helfen könne zur freien Entwicklung all seiner schlummernden Kräfte. Von der Schule griff diese freiere Art der Erziehung in die Familien über. Das Kind war vielerorts zum Gott geworden, vor dem man schier auf die Knie fiel. Man hatte vergessen, dass diese Art freier Erziehung an den Erziehung viel grössere Anforderungen stellt. Väter, die selber noch der Erziehung bedurft hätten, liessen die Zügel fahren und brüsteten sich damit, moderne Erzieher zu sein. Einst kam nach Schulschluss ein junger Vater und bat um eine Unterredung. Das heisst: Er bat eigentlich nicht, sondern fing gleich an zu schimpfen. Ich hatte seinen Sohn wegen einer Ungezogenheit strafen müssen. „Sehen Sie“, meinte er und stellt sich breit vor mich hin, „ich will nicht, dass meinem Hugo der Wille gebrochen wird.“ Ich sagte ihm, es schiene mir, dieser Wille sei noch sehr ungebrochen, und wir könnten ja vielleicht in zehn Jahren noch einmal darüber reden. Er verabschiedete sich, und ich sah ihm noch eine Weile nach. Er zündete sich eine Zigarette an, warf das rote Streichholz auf den schön gepflegten Rasen und die leer gewordene Schachtel auf ein Blumenbeet. War’s zum Verwundern, wenn der Sohn Hugo alles, was seinen Weg durchkreuzte, rücksichtslos beseitigte?
Was soll ich weiter erzählen? Wissen wir ja doch alle, worum es geht: Wenn von Eltern nicht mehr anerkannt wird, dass ihr Kind lernen muss, sich zusammenzunehmen, wenn sie zugeben, dass es frei nach seiner Willkür alle seine Gelüste befriedigen kann – was soll aus ihm werden? Wer soll ihm dann helfen, wenn später die verhängnisvollen Triebe erwachen und keine Kraft da ist, sie zu überwinden?
Auf meinem Weg durch diese Jahre hindurch trug ich schwere Sorgen um das Werden und Wachsen der zukünftigen Generation auf dem Herzen. Ich selber hatte ja Mühe, die Richtung nicht zu verlieren: wie weit soll man einem Kinde seine Freiheit lassen, wo muss man entschieden eingreifen? Wenn man sich da nicht immer wieder orientiert an Gottes Geboten und an dem, was Christus uns lehrt, wenn man sich selbst nicht unter genauer Kontrolle hält, so wird man mitgerissen in diesen Taumel, der nicht mehr weiss, was gut ist und was böse.
Es kam hinzu, dass die Kinder fast von Jahr zu Jahr mehr Mühe hatten, sich zu konzentrieren. Der wachsende Verkehr, Kino und Radio, die ganze Unruhe und Hast des Erwerbslebens erschwerte mehr und mehr eine ruhige, zielbewusste Schularbeit. In den ersten Jahren gelang es mir noch, recht schöne, gemeinsame Arbeiten mit den Kindern zustande zu bringen. … In den letzten Jahren brachte ich es nur mit Mühe dazu, dass jedes mindestens einen Beitrag leistete zu einer gemeinsamen Arbeit. Sind die Kinder dümmer geworden? Keine Spur. Aber sie hatten nicht mehr Zeit; alles verleidete ihnen sehr bald. Es fehlte ihnen an Ausdauer und einer gewissen Seelenruhe, die man nicht erzwingen kann. Soll man sich wundern? …
Wenn es galt, tüchtige Kopfarbeit zu leisten, mit Aufmerksamkeit an der Arbeit zu sein, eine Aufgabe gewissenhaft und gründlich auszuführen, so hatte man auf der Stelle das Gefühl, man überfordere diese Kinder, man müsse wohl mehr Rücksicht nehmen auf ihre schwachen Nerven, dürfe nicht mehr so viel verlangen. Anders aber bei Spiel und Sport. Da merkte man nichts von zarten Nerven. Sie wurden immer tollkühner, draufgängerischer, wollten keine Schranken anerkennen. Ich fragte mich oft, ob man es mit einer ganzen andern Sorte Mensch zu tun haben? …
Ich war genötigt streng zu sein; aber ich erfuhr es immer wieder, dass die Kinder keinen Schlamassler und Gummimenschen zum Lehrer begehren, sie suchen im Gegenteil einen, der sie mit fester Hand führt, und dem sie gehorchen dürfen.
Woher kam Müllers Freude am Lehren?
Der Segen einer intakten Familie
Mir hatte ein gütiges Geschick eine schöne, besonnte Jugendzeit unter der Obhut treu besorgter Eltern beschieden. O Gott! Ein ganzes Leben lang soll ein Mensch dir danken, wenn du ihm das grösste Geschenk gabst, das einem Menschen zuteil werden kann.
Es war ihre Berufung.
Ich glaube nicht, dass ein junger König, der im Begriffe steht, seinen Thron zum erstenmal zu besteigen, erwartungsvoller und siegesgewisser sein kann, als ich es war im Hinblick auf meine erste Schulstube, auf meine ersten eigenen Schüler.
Sie beobachtete die Bindung der Kinder zur Mutter.
Eben erst fing es in mir zu dämmern an, was Kostbares es ist, die Bindung zu erkennen, die ein Kind an seine Mutter kettet. Wollte ich das Kind kennen, musste ich mir auch von seiner Mutter ein Bild machen können.
Sie entwickelte eine mütterliche Liebe zu den Kindern.
Ob man diese mütterliche Liebe aufbringt fremden Kindern gegenüber? Diese Frage beschäftigte mich während der ganzen Zeit meiner Tätigkeit als Lehrerin.
Sie verpasste wichtige Momente des Kindes nicht.
Alles kam nun drauf an, ob ich diesen Blick (des Buben) verstehen könnte.
Sie schlug Wurzeln.
Ganz allmählich fassest du selber Wurzeln, du spürst es kaum. Du merkst erst, wenn du weggehst, dass du diese Wurzeln mühsam vom Erdreich lösen musst, so dass es schmerzt; es bleiben sogar Wurzeln zurück, die du nicht imstande warst zu lösen. Sie bleiben dort und sind die Urheber des Heimwehs.
Sie durchlebte verbindende Geschichten.
Sind es nicht just diese kleinen Geschichtlein aus der intimen Wohnstube, die einem Land und Leute liebmachen? … Man wird mit der Zeit selber durch hundert Fäden hinein verknüpft in die Dorfgemeinschaft.
Die Hauptsache (des Dorffestes) war die Gemütlichkeit, das Schwatzen und Lachen – oder am Ende gar das Essen?
Sie betrachtete das Leben als Kampfplatz.
Das Leben (ist) … keine Friedensinsel, sondern ein Kampflatz …, auf dem wir Stellung zu nehmen haben.