Os Guinness. Francis Schaeffer's "True Truth". (2014)
Os Guinness beginnt mit der Erfahrung aus den 1960er-Jahren. Er besuchte als Student am gleichen Sonntag zwei herausragende Prediger: John Stott und Martyn Lloyd-Jones. Doch erst der Kontakt mit Francis Schaeffer und der mehrjährige Aufenthalt in l’abri ermöglichte es ihm, Gottes Wort mit der sich anbahnenden kulturellen Umwälzung zu verbinden. Deshalb fasst er zusammen: „Francis Schaeffer verdanke ich den Zugang zur Welt.“ Schaeffer war nach Guinness ein hervorragender 1:1 Apologet, denn er nahm Gott ernst, die Menschen ernst und die Wahrheit ernst. Nach wenigen Minuten des Zuhörens standen dem Mann Tränen in den Augen. Guinness erinnert sich an ein ausgedehntes Dinner, als ihn Lloyd-Jones besuchte, und er am Ende 01.30 Uhr die Frage stellte, wie er denn Wahrheit definieren würde.
Einer der charakteristischen Aussagen des Evangelisten und Apologeten war die „wahre Wahrheit“ (true truth). Guinness erzählt von einer Begegnung, als der Betreffende feststellte: „Ich meinte zwar schon früher, dass das Christentum wahr sei, aber dass es so wahr ist, war mir nicht bewusst.“ In einem Zeitalter des grassierenden Skeptizismus, in der das Hauptdogma „Wahrheit ist relativ, betrachter- und standortgebunden“ als Denkvoraussetzung etabliert ist, besteht eine wichtige Aufgabe des Christen darin, die Wahrheitsfrage von Grund auf zu bedenken.
Guinness erinnert sich an die denkwürdigen Aufmärsche in Prag im Jahr des Umbruchs, 1989, als täglich über 300‘000 Menschen Vaclav Havel zuhörten. Er arbeitete heraus, dass das kommunistische System mit Lügen arbeitete. Die Wahrheit aber werde den Sieg davontragen. Auch Alexander Solschenizyn stellte in einer seiner berühmten Reden fest: Ein Wort der Wahrheit wird die gesamte Welt aushebeln. Die Wahrheit zu erzählen, ist in sich ein revolutionärer Akt. Als Nachfolger von Jesus ist es unsere Aufgabe, nicht nur für die Wahrheit einzutreten, sondern Menschen der Wahrheit zu sein in einer Welt, in der das Verkünden der Wahrheit ein solcher Akt ist.
- Bedenke die beiden Quellen der Krise: Ideen und sozialer Kontext. Es gibt zwei Richtungen, in welchen die Wahrheit erodiert. Die erste ist die Ideengeschichte. Die wichtigen Denker des 19. und 20. Jahrhunderts vertraten eine relativistische Sichtweise, allen voran Nietzsche mit seinem Perspektivismus (Alter, soziale Klasse, Nationalität). Untergründig geht es um den Willen zur Macht. Im besten Fall ist Wahrheit relativ, im schlimmeren ist sie eine Frage der Macht. Manche Fragen sind jedoch nicht durch die Philosophen, sondern durch die Kultur, in der wir leben, bedingt. So ist die Pluralisierung der Möglichkeiten der Wahl eine Tatsache. Die Menschen sind immer auf der Suche nach der neusten Möglichkeit und vergleichen im Hintergrund mit vielen anderen Optionen, die auch möglich gewesen wären.
- Sei ermutigt durch einen Sinn für Geschichte. Die Geschichte lehrt uns, dass der Relativismus die Folge einer Überschätzung des Verstandes darstellt. Skeptizismus ist also die Frucht eines überdehnten Rationalismus, Positivismus (Wissenschaftsgläubigkeit) und Empirismus (Erfahrung der Sinne). Skeptische Perioden dauern nie endlos. Menschen können nicht aufgrund eines konsequenten Skeptizismus leben. Denken wir nur an die Wirtschaft oder den Journalismus. Skeptizismus hebt sich selber auf.
- Wenn unser Glaube nicht die biblische Wahrheit zur Grundlage hat, ist er anfällig für Fehlschlüsse. Es ist gefährlich blind zu glauben und nicht in der Lage zu sein Kritikern entgegnen zu können. Für Marx war Glaube Opium, für Freud eine Projektion, für Feuerbach ein Götze (in Umkehr des Ersten Gebots). Glaube ist nicht nur gut, weil er funktioniert oder sich gut anfühlt. Der letztliche Grund unseres Glaubens ist die tiefe Überzeugung, dass er WAHR ist. Auf einer höheren Ebene ist Wahrheit jedoch keine Sache der Philosophie, sondern der Theologie. Unser Herr ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Sein Wort ist Wahrheit. Sein Vater ist die Wahrheit. Sein Wort ist wahr, seine Handlungen sind wahr. Darin ist unser gesamtes Leben und auch das schlimmste Übel eingeschlossen.
- Wir betrachten uns als eine freie, offene Gesellschaft. Das ist schnell gesagt. Negativ ausgedrückt: Ohne Wahrheit bleibt letztlich alles ein Machtspiel (power game) und ist für Manipulation anfällig. Es existieren keine unveräusserlichen Rechte mehr. Beispiel Pablo Picasso: Er war unvorstellbar grausam gegenüber seinen vielen Frauen. Bei seinem Tod begingen drei enge Vertraute Selbstmord. Nur eine Frau hat ihn vergleichsweise unbeschadet überlebt. Ihre Begründung: „Ich trug ihm gegenüber jeden Tag die Waffe der Wahrheit.“ Mit der Wahrheit im Gepäck kann jemand nicht manipuliert werden. Positiv formuliert: Freiheit setzt Wahrheit voraus. Negative Freiheit ist Freiheit von…, positive Freiheit ist Freiheit zu… Die moderne Annahme, dass Freiheit beliebig wählbar sei, ist eine irrige Annahme, die ins Nichts führt. Gerade so kann ein Tiger im Zoo zwar aus seinem Käfig befreit, jedoch nicht von seinen Streifen erlöst werden. „Die Wahrheit wird euch freimachen“ – diese Worte von Jesus sind an mehr Mauern von Universitäten eingraviert worden als jeder andere Spruch.
- Wie antworten wir einem Skeptiker? Es gibt zwei Taktiken. Negativ: Relativiere den Relativisten! Bei einem Relativisten ist alles relativ – abgesehen von den eigenen Überzeugungen. Elia rief aus: Dient entweder Jahwe oder Baal. Augustinus meinte: Betrachte genau, wohin dich eine Idee führt. C. S. Lewis empfahl ähnlich: Folge einer Idee bis zu seinem äussersten Ende. Schaeffer buchstabierte mit seinen Gesprächspartnern die Konsequenzen ihrer eigenen Ideen durch. Positiv: Weise die anderen auf die Zeichen (signals) der Transzendenz hin. Wenn Menschen Gott zurückweisen, unterdrücken sie die Wahrheit. Es wird immer Gottes Wahrheit in ihrem Verstand und ihrem Leben vorhanden sein, der ihren Behauptungen oder ihrem Leben widerspricht.
- Es gibt eine moralische Herausforderung der Wahrheit, die sich uns stellt. Wir können entweder die Wahrheit nach unseren Wünschen (um)formen oder aber unsere Wünsche der Wahrheit unterordnen. Je anspruchsvoller das Denken, desto verschlungener können diese Umformungen ausfallen. Wir Menschen sind beides: Wahrheitssucher und Wahrheits-Verdreher (truth twister). Beispiel: „Wir entschieden für uns, dass die Welt keine Bedeutung hat. Die Bedeutungslosigkeit ist unsere Form der Befreiung.“ (Aldous Huxley) Die zweite Möglichkeit ist die des Bekenntnisses. Michel Foucault, selbst kein Christ, bewunderte am Christentum das Moment des Bekenntnisses. Es sei einer der seltenen Momente, in denen Menschen die Wahrheit der Wirklichkeit, die gegen sie selbst spricht, anerkennen.
Dadurch, dass wir unsere Sünden bekennen, so schrieb Johannes, leben wir im Licht. Wahrheit ist deshalb nicht allein eine philosophische Sache. Sie betrifft unseren Herrn und uns selbst ganz direkt. Letztlich geht es darum, wie Francis Schaeffer sagte, dass wir uns vor Seiner offenbarten Wahrheit beugen. Wir beugen uns vor dieser Offenbarung und vor der für uns geschehenen Erlösung. Guinness endet mit weiteren persönlichen Erinnerungen an Schaeffer. Dieser stellte ihm wohl 50 Fragen in Serie, um sicherzustellen, dass Oxford seinen Glauben nicht unterminiert hatte. Er war voller Leidenschaft für die Wahrheit. Durch Gottes Gnade: Lasst uns Menschen der Wahrheit sein.