Ein weiteres wuchtiges Zitat aus Rohrmosers “Nietzsche als Diagnostiker der Gegenwart” (S. 133f; über weite Strecken zitiert aus der Vierten Unzeitgemässen Betrachtung):
‘Ehemals sah man mit ehrlicher Vornehmheit auf die Menschen herab, die mit Geld Handel treiben, wenn man sie auch nötig hatte; man gestand sich ein, dass jede Gesellschaft ihre Eingeweide haben müsse. Jetzt sind sie die herrschende Macht in der Seele des modernen Menschen, als der begehrlichste Teil derselben.’ Nietzsche bezieht sich hier auf die Besessenheit, mit der wir vom Erwerbstrieb erfasst sind, und auf die Macht des Geldes. Er spricht hier den Grundtatbestand der kapitalistischen Lebensweise an. ‘Ehemals warnte man vor nichts mehr, als den Tag, den Augenblick zu ernst zu nehmen und empfahl das nil admirari und die Sorge für die ewigen Angelegenheiten; jetzt ist nur eine Art von Ernst in der modernen Seele übrig geblieben, er gilt den Nachrichten, welche die Zeitung oder der Telegraph bringen. Den Augenblick zu benutzen und, von ihm Nutzen zu haben, ihn so schnell wie möglich zu beurteilen! – man könnte glauben, es sei den gegenwärtigen Menschen auch nur eine Tugend übrig geblieben, die der Geistesgegenwart. Leider ist es in Wahrheit vielmehr die Allgegenwart einer schmutzigen, unersättlichen Begehrlichkeit und einer überall hinspähenden Neugierde von Jedermann.’ Die unersättliche Begehrlichkeit, der Besitztrieb und die Versklavung an den Augenblick und an das, was in den Zeitungen steht und in den Nachrichten gesendet wird – das sind die Aussagen Nietzsches über die Verfasstheit des Menschen in der modernen Welt, von denen man ohne Übertreibung sagen kann, sie könnten auch heute geschrieben sein. Nietzsche stellt fest, dass das Dasein des modernen Menschen durch den modernen Macht- und Erwerbsapparat gekennzeichnet ist. Übrig bleibt ein ausgelaugter, ein steriler Mensch, der dann, auf sich selbst zurückgeworfen, die Entleerung des Daseins, durch den euphorischen Ausdruck ‘Freizeit’ zu verkleiden sucht.