Stationen meines Aufwachens (6): Die Form dominiert den Inhalt

In einer zehnteiligen Serie berichte ich über meine geistliche Reise der letzten zehn Jahre, aufgrund derer ich der Überzeugung bin, dass der sog. "Evangelikalismus" vor einer grundlegenden Entscheidung steht bzw. sich innerlich schon gespalten hat.

Dieser Beitrag wird einem Teil meiner Leser nicht gefallen. Bitte bleibt trotzdem dran! Ich hüte mich gute Absichten zu bestreiten. Es geht um eine Analyse aus Nahdistanz. Immerhin habe ich 20 Jahre meines Lebens in einem solchen Rahmen verbracht – einen Teil davon mit zunehmenden Bedenken.

Im Beitrag "Die Form determiniert den Inhalt" versuche ich am Beispiel eines Gottesdienstes auszubuchstabieren, wie die Form den Inhalt dominiert. Die Performanz, das Diktum eines guten Gefühls wischt bei aller löblichen Absicht das in den Hintergrund, worum es hauptsächlich geht. Am Schluss des Tages bzw. unseres Lebens geht es nicht darum, dass wir uns gut gefühlt, sondern dass wir Gott in guten und schlechten Tagen geehrt haben. Ich füge hinzu: In den schlechten Tagen scheint dies in meinem Leben sogar besser möglich zu sein. Im Essay über den Gottesdienstbesuch schrieb: "Da war tolle Performance. Da war tolles Engagement. Da war von allem etwas drin. Doch es fehlte mir das Hauptstück: Die sorgfältige, gut strukturierte und auf das Leben der Zuhörenden angewandte Auslegung eines Bibelabschnitts. Das ist keine Forderung eines denkenden Menschen. Gott hat es als Mittel gewählt, um alle Menschen anzusprechen. "Wie würdest du den Gottesdienst aufbauen?" Eine Lesung aus dem Alten und aus dem Neuen Testament. Jedes Element der Liturgie wird genau und mit Bibelbezug erklärt. Sündenbekenntnis, Apostolikum, auch zwei Fragen aus dem Katechismus würden dazu gehören. We desperately need to hear God's word. Nicht weil wir das Buch anbeten. Sondern weil der Schöpfer und Erlöser angekündigt hat, durch dieses Wort zu sprechen. Ich bleibe bei meiner These: Die Form determiniert (leider) den Inhalt; es müsste umgekehrt sein."

Noch eine Erkenntnis steht für meine letzten Jahre Gemeindeerfahrung zentral: Die 20 Jahre Willow-Sozialisierung mit dem dahinter stehenden Paradigma des Gemeindewachstums hinterliess – allen guten Absichten zum Trotz – Bombenkrater. Wie meine ich dies? Ich beschrieb es im Beitrag "Lasst uns niemals mit Lifestyle-Tipps zufrieden sein": "Durch diese Form der "Kirchensozialisierung" wurde unsere Generation den biblischen Inhalten weitgehend entwöhnt. Es entstand ein substanzielles Vakuum, das durch ein gut geöltes Programm überdeckt wurde. Richtig eingeschlagen hat es bei der nächsten Generation: Diese wuchs ohne die Inhalte auf, mit denen ich durch meinen Gemeindehintergrund von klein auf gewohnt war." Manche schiebeen dieses Argument mit dem Hinweis zur Seite, dass dies einfach meiner Erfahrung entspreche und zu extrem sei. Dies betrachte ich als zu billige Erklärung. Ich bitte darum, diese Schlüsselgedanken von David F. Wells sorgfältig zu bedenken:

Das scheinbar autonome Selbst verlangt ständige Anregung von aussen. Es ist abhängig von dieser Normierung bzw. Manipulation. "Die immanente Autorität des Selbst wird zum Beispiel daran deutlich, dass sie die Wichtigkeit einer Sache daran misst, ob sie sich gut anfühlt. Die Erfüllung des Selbst wird zum Schlüsselkriterium des Lebens. Eine Folge davon ist die Aufspaltung des Selbst (Innenperspektive) und des Image (Aussenperspektive). Das bedeutet, dass das Selbst um der Stimmigkeit nach aussen willen manipuliert werden darf. … Der selbstgeleitete Mensch (inner-directed) wird dadurch in höchstem Masse verletzlich. Er orientiert sich darum sklavisch an einer externen Autorität, nämlich dem Markt (other-directed). Er ist Konsument nicht nur von Material, sondern auch von Worten, Bildern und Beziehungen. Er ist nicht mehr der einsame Cowboy (Individualist), sondern der Narzisst, der sich ständig im Spiegel prüft, ob er den aktuellen Erwartungen des ihn umgebenden Marktes entspricht." Genau diese Funktion muss ein emotional "bombastischer" Gottesdienst ausfüllen.

"So steht der Mensch der (Spät-)Moderne so selbstbestimmt und gleichzeitig verunsichert wie noch nie zuvor da. Er ist nur noch an dem interessiert, was dem anderen wichtig ist. Er ist gefüttert vom täglichen Drama des Fernsehens, das ihn praktisch ohne jegliche Argumentation, aber mit gefestigten Gefühlsschablonen zurücklässt." Die kino- und theaterartigen Anlässe befeuern dieses Grundbedürfnis des spätmodernen Menschen.