Stationen meines Aufwachens (7): Keine Gemeinschaft lebt ohne Gesetz

In einer zehnteiligen Serie berichte ich über meine geistliche Reise der letzten zehn Jahre, aufgrund derer ich der Überzeugung bin, dass der sog. "Evangelikalismus" vor einer grundlegenden Entscheidung steht bzw. sich innerlich schon gespalten hat.

Ich bin überzeugt, dass die theologisch-systematischen Überlegungen zu Gesetz und Evangelium für das Gemeindeleben zentral sind. Randy Alcorn bezeichnet sie als die beiden Flügel des Evangeliums: "Ein Vogel braucht zum Fliegen nun einmal zwei Flügel. Mit nur einem Flügel kann er sich nicht zum Himmel emporheben. Und so fliegt auch das Evangelium mit zwei Flügeln: dem Flügel der Gnade und dem Flügel der Wahrheit. Nicht nur mit einem, sondern mit beiden." Ich beobachte zwei unterschiedliche Schamkulturen innerhalb der Gemeinden (siehe unten): Beide betonen in unterschiedlicher Weise das (eigene) Gesetz. Satan sendet uns, wie C. S. Lewis treffend bemerkt hat, die Irrtümer jeweils paarweise. Gerade auch Gemeinschaften, die sich vermeintlich von "Gesetzlichkeit" befreit haben, müssen sich zwangsweise eine neue Form von Gesetzlichkeit zulegen. In der Theologie spricht man von "Neo-Nomismus".

Grosse Verwirrung hat deshalb das Schlagwort "Gesetzlichkeit" gestiftet. Im Beitrag "Wer Gottes Gebote über Bord wirft, ist gesetzlich" versuchte ich auszuloten, was Gesetzlichkeit ist und was nicht. Zum Beispiel: "Wer eine komplette Befreiung von Gottes Geboten (Liebes- oder Situationsethik) reklamiert, hat damit ein neues übergeordnetes Gesetz aufgestellt." In der Typisierung "Der Phari- und der YOLO-Typ" komme ich zur Schlussfolgerung: "Beide Lebensarten gleichen zwei unterschiedlichen Türen, die in den gleichen Raum führen: Beide brauchen Christus nicht. Der eine hält selber das Gesetz, für den anderen existiert keine objektive Schuld."

Im Beitrag "Zwei Schamkulturen und der Mechanismus der Selbsterlösung" beschreibe ich zwei Arten der Gesetzlichkeit: "Die „pietistische“ Schamkultur richtet sich eher an den eigenen (perfektionistischen) Erwartungen aus. Das heisst, sie prägt eine eigene Messlatte nach innen. … Die „neo-evangelikale“ Schamkultur orientiert sich nach aussen. Das bedeutet, dass äussere Bedingungen einen hohen Stellenwert einnehmen. … Die pietistische Schamkultur lebt von der Miterlösung: Jesu Blut nimmt unsere Schuld weg. Dazu braucht es jedoch unseren „schwachen Glauben“. Wir trösten uns damit, dass wir schwach sind (und eigentlich nicht sündig). Die neo-evangelikale Schamkultur lebt ebenfalls von Miterlösung. Das Leben in der Gemeinschaft wird durch Anpassung an bestimmte Lebensstilmerkmale erkauft."

Ich pauschalisiere mit Absicht: Da wir die Systematik vernachlässigt haben, ist uns das Ringen um die Ausgewogenheit zwischen Gesetz und Evangelium abhanden gekommen. Zeit, unser Augenmerk wieder darauf zu richten!