Sie sitzt mir im Zugabteil gegenüber, die junge Dame. Wobei – Dame darf ich wahrscheinlich nicht sagen. Dann halt eine erfolgreiche junge Frau. Doch: Ist das Gender-gerecht? Vielleicht müsste ich sie nach jener Ideologie zuerst fragen, als was sie sich momentan fühle. Ich bleibe beim «sie». Also: Sie ist tadellos angezogen. Neue Schuhe, Hosen, Pullover. Ich vermute, dass sie praktisch jeden Tag neue Kleider trägt. Sie ist dezent geschminkt. Die Haare sind perfekt geschnitten. Ca. jede 30 Sekunden streicht sie es sich unruhig über das Ohr.
Auf den Knien liegt das Firmen-Laptop, erkennbar am Firmenlogo unterhalb der Tastatur. Zwei Smartphones liegen direkt dahinter. Fast im Minutentakt versucht sie sich per Hotspot einzuloggen. Ein missmutiges Seufzen, als es wieder nicht klappt. Nun gut, es schneit auch zünftig. So werden die neusten Mails offline aufgesetzt. Es gibt genug zu tun am Montag.
Gefühlt alle fünf bis sieben Minuten wird das Smartphone nach neuen Textnachrichten der Whatsapp-Gruppen abgerufen. Ab und zu greift sie nach der Flasche neben ihr. Sie ist mit Tee gefüllt, Mischung «Balance». Zumindest ist es angenehm, dass sie nicht dauernd laute Geschäftsgespräche führt wie viele ihrer männlichen Kollegen. (Fast scheint mir, als ob sie die Kulisse der Mitreisenden für ihre Kalkulationen und Anweisungen per Telefon bräuchten.)
Was würde sie wohl zu Mittag essen? Einen Vegi-Burger? In der Tasche führt sie sicherlich Bio-Nüsse mit. Das Smartphone summt. Aha, jetzt gibt es doch Verbindung mit der Firmenbasis. Die Bürokollegin ist dran. Ich muss mein anfängliches Urteil korrigieren. Sie kann auch businness-mässig am Draht hängen. In der Hauptsache wird das zurückliegende Wochenende besprochen.
Das Abteil erfährt in der nächsten Viertelstunde, dass sie mit dem Neuen zusammen ist. Genau mit dem, auf den es die andere Freundin auch abgesehen hatte. «Zu dumm, dass ich es ihr nicht früher sagen konnte. Ich muss es diese Woche irgendwie geschickt vermitteln.» Ja, man war zusammen in den Bergen. «Es war uuuuh schön.» Eine kleine Pause folgt. Ich kann förmlich spüren, wie die Sekunden des Neids der Gesprächpartnerin genüsslich ausgekostet wurden.
Im Nobelkurort war man, aber nur am Freitag. Langlaufen. Das machen jetzt einige Kollegen – natürlich nur die vergleichbar sportlich-schlanken. Dann noch ein romantischer Spaziergang. Am Samstagabend musste man wieder zu Hause sein. Denn dann wurden die jeweils besten Freunde einander vorgestellt. «Wir gehen es langsam an.»
Nervös sei sie gewesen. Die Party habe bei ihr zu Hause stattgefunden. «Anfangs war ich so aufgeregt, dass ich beinahe in die Hose gemacht habe.» Mit jeder Flasche Wein, die sie neu auftischte (wieviele es wirklich waren, sei dahingestellt), sei die Stimmung besser geworden und die anfängliche Scheu geschwunden.
Nun war ich drauf und dran, mir die Stöpsel in die Ohren zu stecken und Bach oder Chopin aufzulegen. Ich entschloss mich jedoch, die Szene fertig zu verfolgen. Natürlich kann man nicht beim Privaten bleiben. Schliesslich ist es Geschäftszeit. So wird noch das Abschiedsgeschenk für den netten Kollegen besprochen. Nach kurzer Beratung einigen sich die zwei auf dieselbe Ausführung wie beim letzten Abschied. Gleicher Preisrahmen, kein Zusatzaufwand. «Also, ich muss gleich umsteigen.» Sie ergreift die – wie ich denke – teure Markenjacke, die Ledertasche und den schwarz-glänzenden Koffer und verlässt das Abteil. Natürlich nachdem sie nochmals einen tüchtigen Schluck aus der Teeflasche genommen hatte.
Nun komme ich zur eigentlichen Absicht, warum ich diese Details ausgeführt habe. Nennen wir das Kind beim Namen: Ich wünsche keinem meiner Söhne eine solch erfolgsverwöhnte Frau. Vorsicht mit apodiktischen Urteilen? Nun, überlege mit: Ich kann nur zu gut verstehen, dass solche Frauen den Männern haushoch überlegen sind, und zwar in fast allen Belangen.
Zuerst einmal wissen sie grundsätzlich, was sie wollen und was nicht. Vermutlich von klein auf sind sie es sich gewöhnt im Mittelpunkt zu stehen. Kleinfamilie, genügend Geld, vielleicht Scheidungskind. Mit dem neuen Partner der Mutter in bestem Einvernehmen. Sie sind sprachlich gewandt, wohl schon auf allen Kontinenten gewesen.
Den ersten Jugendfreund hatten sie einige Jahre, nachher gab es ab und zu einen Wechsel. Bei jeder Krise durfte man getrost auf die elterliche Wohnung und sonstigen Ressourcen zurückgreifen. Dreimal jährlich Urlaub im Ausland, Matura, Wunschstudium, grosszügiger Zuschuss ans Studentenleben, durchschnittliche Noten. Dann die erste Stelle im HR oder im Marketing. Dort, wo es solche Frauen eben hinzieht.
Vermutlich gegen Ende Dreissig wird sie sich festlegen und ein, zwei Kinder haben wollen. Mitte/Ende Vierzig dann die Scheidung. Nichts Besonderes, man hat sich auseinandergelebt. Weitere Ausbildung, Findungsphase. Immer viel Sport. Joggen, rudern, im Winter Skifahren und Langlauf. Weltreise.
Das tönt doch alles ganz unspektakulär, nach einem Leben auf der Sonnenseite. Es gibt eine Konstante in einem solchen Leben: Die konsequente Ausrichtung auf sich selbst. Das Leben in Übereinstimmung mit sich selbst. Das ständige Abtasten nach der bestmöglichen Stimmigkeit. Das Wohlfühlen steht an oberster Stelle. Verzicht? Zurückstehen? Leben vom Ende her? Für die nächste Generation? Für eine kleine Kirchgemeinde? Kaum.
Darum bedenke wohl, mit wem du dich bindest. «Diese Woche habe ich jeden Tag einen Lunch.» (Agendacheck auf dem Smartphone.) «Aber nächsten Montag könnten wir zusammen joggen gehen.»