Ich habe das Vorrecht von klein auf die ganze Bibel lesen zu dürfen. Dabei fand ich, dass manche Aussagen von Christen, die über Gott getätigt werden, verblüffend anders klangen, als ich es in der Bibel vorfand. Da wurden nonstop Brücken gebaut in der Art von “Gott lässt es zu, wirkt es nicht”. Ich hörte z. B. einen Input zu Apostelgeschichte 9, dass Paulus sich für Jesus entschieden habe. Ich las aber: Er warf ihn vom Pferd. Eben habe ich wieder in der ganzen Schrift sämtliche Tätigkeiten Gottes markiert und den Verben, die für den Menschen gebraucht werden, gegenübergestellt. Der Mensch ist verantwortlich handelnd, keine Frage – aber niemals in freier Entscheidung in Bezug auf das Heil. Das biblische Zeugnis ist einfach erdrückend. Ich muss meine Denkvoraussetzungen von der Bibel korrigieren lassen.
In der Diskussion fasste es einer meiner Freunde wundervoll in Worte:
Der menschliche Wille ist (subjektiv) frei, hebelt jedoch zu keinem Zeitpunkt Gottes ewigen Plan aus. Gottes ewiger, allumfassender Plan gilt, aber nicht so, dass er die Verantwortlichkeit des Menschen für seine Entscheidungen zerstört. Ein echtes Paradoxon, im Sinne eines sacrificium intellectus, schaffen wir hingegen, wenn wir einerseits, neben Gottes Allmacht und ewigen Ratschluss, Kontingenzmächte, wie eine absolute Willensautonomie des Menschen, einfordern, um den Kategorien unserer linearen Vernunft Genüge zu tun, und anderseits mit echter Erwartung auf Erhörung Gott um Gnade bitten. In dem Moment erwarten wir, dass Gott etwas tut, was er aufgrund unserer Vernunftsprämissen gar nicht tun kann (oder auf das er, um das hohe Gut unserer absoluten “Freiheit” zu wahren, freiwillig verzichtet). Menschen, die in Not oder um anderer Menschen Not willen hoffnungsvoll zu Gott beten, sind der beste Beweis, dass, abgekoppelt von seinen philosophischen Bedenken, jeder echte Christ im Herzen Calvinist ist.
Keiner kann den Tag seiner Geburt bestimmen oder seiner Körpergröße auch nur einen Zentimeter hinzufügen; Nichtgläubige sind tot in ihren Sünden und (schuldhaft, denn es ist schließlich Sünde) ignorant; gläubig werden die Menschen einzig und allein durch ein souveränes, übernatürliches Eingreifen Gottes, der “gläubig werden lässt, so viele ihrer zum ewigen Heil bestimmt sind”. Nichts davon liegt an “eines Menschen Wollen und Laufen”. Sowie wir gläubig sind, wandeln wir in “den guten Werken, die Gott für uns bereitet hat”. Gottes Ermahnungen und Drohungen sind Gnadenmittel, die uns auf diesem Weg halten. All unsere Tage (ebenso wie die Haare auf unserem Haupt) sind gezählt. Unser Leid ist von Gott bemessen. Dieser absolute Determinismus ist Trost und Sicherheit für die Gläubigen. Er lässt uns dankbar und demütig sein. Welcher Teufel reitet uns Menschen nur, um jeden Preis ein marodes Konstrukt eines “freien menschlichen Willens” auf Kosten umfassender göttlicher Souveränität über die Runden retten zu wollen?
Wir sollten einfach dabei bleiben, stehen zu lassen, was die Bibel als Gottes geschriebene Selbstoffenbarung darüber lehrt. Und sie lehrt durchweg beides, implizit und explizit: einerseits, dass Gott alles bestimmt, was geschieht, und anderseits, dass Geschichte echte Bedeutung hat und der Mensch echte, verantwortliche Entscheidungen trifft. Wenn wir das gedanklich (noch) nicht zusammenbekommen, erwächst daraus kein Recht, die eine Aussage einfach fallenzulassen.