Hanniel hirnt (58): Der neue Glaube der spätbürgerlichen Gesellschaft

Ich habe es gewagt und eine Podcast-Serie über Günter Rohrmosers Gegenwartsanalyse auf der Folie von Nietzsches Frühwerk Unzeitgemässe Betrachtungen aufgenommen. Nachdem mich Rohrmosers "Der Ernstfall" sehr beeindruckt hat, setzte ich meine Lektüre Stück für Stück fort. "Nietzsche als Diagnostiker der Gegenwart" prägt mich nachhaltig. In der ersten Folge geht es um eine kurze Beschreibung der Ausganglage:

In der Gegenposition zu den berühmten Erörterungen von Martin Heidegger geht Rohrmoser davon aus, dass der junge Nietzsche in den vier „Unzeitgemässen Betrachtungen“ die Gesamtproblematik umfassend dargelegt hat und dass sein Gesamtwerk „als Antwort auf die darin aufgestellten Kulturprobleme“ zu betrachten sei (S. 26). In diesen vier Betrachtungen wandte sich der Denker der Religion, der Geschichte, der Philosophie und der Kunst zu.

  • Religion: In der Beschäftigung mit D. F. Strauss arbeitet er den „neuen Glauben“ der bürgerlichen Gesellschaft heraus: Man ist nicht mehr Christ, jedoch noch religiös. Die Wirklichkeit wird darwinistisch ausgelegt. Das Handeln des Menschen geschieht selbstbestimmt, jedoch in Abstimmung mit dem Gesamtinteresse. Nietzsche trifft diese Form der Daseinsinterpretation bereits an (und zwar bei einem Theologen), er hat sie nicht begründet!
  • Geschichte wird mythisiert und von der Gegenwart abgelöst.
  • Der Philosoph sieht er als Gesetzgeber, der aufgrund seiner intuitiven Wahrnehmung der Grundbeschaffenheit der Dinge die Masse und Gewichte neu festzusetzen vermag (S. 78).
  • Die Kultur als Hervorbringung von Bedeutsamkeit wird durch einzelne Personen, den Genius, hervorgebracht (S. 94).