Input: (Nur) Christen sind Heuchler?

"Christen sind Heuchler." Untersuchen wir diesen Pauschalvorwurf genauer. Os Guinness hat in seinem Buch "Fool's Talk" ("Beware the Boomerang", Kapitel 10) überaus hilfreiche Gedanken dazu verfasst.

Der Vorwurf: Christen leben nicht, was sie predigen.

Ich höre schon, was andere hinter vorgehaltener Hand oder offen sagen: "Sie verkündigen hohe Ideale, nach denen sie andere richten. Sie wollen diese Massstäbe anderen überstülpen. Irgendwann tritt dann zu Tage, dass sie diese Latte selbst nicht erreichen, was sie beschämen muss. Niemand mag solche Menschen." Auf diese Weise können Nichtchristen den Glauben der Christen „falsifizieren“.

Beginnen wir mit dem Eingeständnis. Tatsächlich sind wir als Zeugen berufen worden (vgl. Jes 43,10+12; Joh 3,28). Es gibt kaum etwas Beschämenderes, als wenn unsere Taten unseren Worten widersprechen. Sie scheinen die Ausrede der Nichtchristen zu unterstützen: „Ich bin zwar kein Heiliger, aber ich bin auch kein Heuchler.“ Besonders schwierig wird es in einem Umfeld, in denen sich Christen ihrer Umgebung stark angepasst haben und eine Art „Kulturchristentum“ leben.

Das Eingeständnis führt zu einem realistischen Blick. Der christliche Glaube passt in die ganze Wirklichkeit. Wenn wir es uns zur Angewohnheit machen, Argumente zu Ende zu denken und auftauchende Widersprüche aufzudecken, dann fangen wir damit bei uns an. Es wird solche Widersprüche geben. Doch dann erkennen wir, dass wir selbst das Problem darstellen und nicht der Glaube! Das führt zu folgenden Einsichten:

Erkenne, dass alle Menschen Heuchler sind.

Es besteht eine Lücke zwischen Erscheinung und Wirklichkeit, zwischen unserem inneren und unserem äusseren Selbst. So viel Betonung heute auf Authentizität, Echtheit und Transparenz gelegt wird: Keiner kommt diesem Ideal nach. Das spätmoderne Denken stellt hier einen Anspruch auf, der in der Wirklichkeit gar nicht erfüllt wird. Nach noch mehr. Es ist zu fragen: Wie kann überhaupt den Vorwurf von Heuchelei erhoben werden, wenn es gar keinen Massstab für Wahrheit aufgestellt werden kann? Die Spätmoderne verstrickt sich hier in einen Selbstwiderspruch. Nach ihrem eigenen Dogma existieren nur individuelle Wahrheiten und kein Massstab für objektive Gerechtigkeit!

Dazu kommt ein weiteres Problem. Wer sich selbst anlügt (um diesen Widerspruch zu überbrücken), darf und soll es nach diesem Paradigma tun. Allerdings bringt der innere Widerspruch fatale Konsequenzen mit sich. Wer sich dauernd anlügt, kann mit der Zeit Wirklichkeit nicht mehr von Täuschung unterscheiden. Wenn sich diese Ablösung vollzogen hat, bleibt nur noch der Ausweg des Zynismus. Weshalb? Eben weil es ja keinen Weg gibt, eine übergeordnete Wahrheit festzustellen!

Stelle dich der Tatsache, dass Wahrheit unabhängig von uns Menschen ist.

Bei der Heuchelei geht es um eine Differenz zwischen Wahrheit und Lüge, Integrität und Falschheit, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Eine Wahrheit ist unabhängig davon, ob wir sie ausleben, wahr! Die Wahrheit hängt in sich nicht von dem ab, der sie lebt bzw. nicht lebt.

Keine Heuchelei ohne Anerkennung von Tugenden!

Was ist damit gemeint? „Wenn wir keine Fehler hätten, würden wir kein solches Vergnügen dabei empfinden, sie bei anderen zu entdecken.“ (Duc de la Rouchefoucauld) Das Böse ist in gewisser Weise stets eine Imitation des Guten. Die Untugend existiert nur, weil es Tugenden gibt. Die Selbstliebe beispielsweise will nach aussen so erscheinen, wie wenn sie uneigennützig wäre. So gibt es keinen (oder kaum einen) Akt der Wohltätigkeit, der nicht aus Menschengefälligkeit heraus motiviert sein kann! Letztlich kann nur Gott diese Feinheiten genau unterscheiden. Trotzdem muss die Heuchelei der offenen Bosheit vorgezogen werden. Wenigstens bemüht sie sich einen Anschein von Tugend zu wahren.

Moralische Seriosität kommt von dem, der aufs Herz schaut.

Die moderne Welt ist eigentlich eine lebenslange Schule in Heuchelei. Verkaufe dich nach aussen gut. Will heissen: Halte nach allen Seiten einen Schein aufrecht. Aus biblischer Sicht besteht Charakterfestigkeit gerade in dem, wer du bist, wenn dich niemand sieht. Die biblische Weltsicht liefert die Begründung dafür, weshalb Heuchelei so schwer wiegt! Gott schaut nicht auf das Äussere, sondern auf das Herz (1. Samuel 16,7).

Bekenne die Differenz zwischen Schein und Wirklichkeit.

Die natürliche Reaktion des Menschen – schon bei kleinen Kindern zu beobachten – ist: Wie du mir, so ich dir. Wir geben zurück, was wir empfangen, und legen dabei noch eins drauf. Der christliche Glaube kennt jedoch einen radikal anderen Weg: Er weist den Sünder (und den begnadigten Sünder) an ein Bekenntnis abzulegen. Dieses Bekenntnis wird heute in einer zunehmend schamorientierten Stammes-Kultur, geprägt und gesteuert durch die Medien, als Schwäche auslegt. Dabei bedeutet Bekennen sich zu befreien. Heuchelei ist auf die lange Frist gesehen Versklavung an sich selbst.

Setze dich dem radikalsten Anti-Heuchelei-Programm aus!

Die Bibel entlarvt den tiefsten Grund für Heuchelei. Sie ist keine Frage der sozialen Schicht oder der Volkszugehörigkeit. Sie ist eine Folge der Sünde. Der von Gott getrennte Mensch muss die Wahrheit, die er unumgänglich erkennt, unterdrücken. Damit ist er zwangsweise in der Position eines Heuchlers. Wer zum Licht kommt, setzt sich dieser unangenehmen Tatsache aus.