Vor Jahren ging ich spätabends über den Bahnhof Stettbach. Ich hatte einen Klienten zum Gespräch nach der Arbeit getroffen. Als ich auf den Zug gehen wollte, bemerkte ich eine Gestalt, die den Selecta-Automaten mit einem Werkzeug zerstörte und dabei war sich mit dem Inhalt zu bedienen. Ich ging hin und rief «he». Da drehte sich der junge Mann um und wuchtete mir mit aller Kraft die Faust in die Schläfe. Mit einer Platzwunde lief ich, so schnell ich konnte, die Rolltreppe hinunter. Hinter mir hörte ich Pfiffe. Von allen Seiten her kamen Jugendliche angerannt und versperrten mir den Weg zum Zug. Mit einem gewaltigen Sprung rettete ich mich in den geöffneten Wagen. Als ich das Blut auf den Boden tropfen sah, sprach mich ein Mann an, der bereits die Polizei verständigt hatte. Im späteren Interview mit der Polizei sagte mir der Beamte, dass seit einiger Zeit eine Bande die Gegend unsicher mache.
Meine Mutter hatte schon manchmal besorgt den Kopf geschüttelt, wenn ich mich als Jugendlicher mich in fremde Dinge «einmischte». Im Soziologieunterricht lernte ich später, dass der öffentliche Raum Tabuzone darstellt. Ich erinnere mich an einen Morgen, als am Bahnhof neben mir ein betrunkener Mann die Treppe herunterfiel und liegen blieb. Ich war in dem Moment feige und ging weiter. Dies plagte mich noch Wochen später.
Die Angewohnheit einen wachen Blick für meine Umgebung zu behalten und einen (wirklich bescheidenen) Anteil zu leisten, dass unser Land eine Stätte bleibt, in der nicht jeder am anderen vorbeiläuft und ihn seinem Schicksal überlässt, ist mir bis heute geblieben. Ich schäme mich für meine Zögerlichkeit. Und ich betrachte mit Sorge die Unbekümmertheit vieler, die sich Christen nennen und für links und rechts keinen Blick haben. Sie sind bloss mit ihrem privaten kleinen Glück beschäftigt. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass Gott uns bestimmten Menschen über den Weg schickt.
So erdreistete ich mich kürzlich, einem jungen Mann im besten Alter einen persönlichen Brief zu schreiben und ihm ein Gespräch über sein weiteres Leben anzubieten. (Leider betrachten die Westler sie heute als «Kinder» und sprechen ihnen fast jede Eigenverantwortung und Kompetenz ab; sie müssen sich ihren öden Alltag mit unnützen Dingen spannend machen – Gewohnheiten, die sie später bereuen.) Seine Eltern waren erbost über mein Ansinnen. Das macht «man» doch nicht. Doch wer ist «man»? Herr und Frau Schweizer bewegen sich nicht aus ihrer Komfortzone. Für sie heisst es in diesen Tagen «Urlaub» machen. Das gönnen sie sich. Dass ich diesen Zusatzaufwand nach einer äusserst anstrengenden Arbeitswoche betrieb, liess in mir Zweifel aufsteigen, ob ich wohl «Trottel vom Dienst» sei. Nein!
Ich schrieb diesen Brief aus dem gleichen Anliegen, wie ich den jugendlichen Straftäter ansprach. Manchmal ist es wichtig, von fremden Menschen Hinweise zu bekommen. Ich war in meinem eigenen Leben schon oft dankbar für solche Winke (manchmal mit dem Zaunpfahl). Dass meine Einmischung als «arrogant» empfunden wird, das vermag ich wohl nachzuvollziehen. Wildfremde Leute haben sich doch nicht in das Leben anderer Menschen einzumischen! Das sehe ich wie beschrieben anders. Gott schenke mir den Mut, noch viele solcher Situationen zu nützen – ob beruflich oder privat. Es zählt nicht das blaue Auge von heute, es geht um Jahre und Jahrzehnte. Es geht letztlich um – die Ewigkeit. Ich werde eines Tages vor meinem Schöpfer Rechenschaft ablegen müssen. Bei aller Schwachheit und Unfähigkeit kann ich eines sagen: IHM traue ich viel zu!
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