Kolumne: Wer das Bessere sieht, kann das andere fahren lassen

Meine Frau hat nach fünfzehn Jahren Tag- und Nacht-Dienst zur Zeit eine freie Zwischenstunde an einem Nachmittag. Sie freut sich jeweils auf die Zeit alleine auf einer Bank mit einem guten Buch. (Ich kann es nicht unterlassen, ihren aktuellen Buchtitel "For the Children's Sake" anzupreisen.) Kaum hatte sie sich gesetzt, gesellten sich zwei ältere Damen zu ihr. Die Ruhe war dahin. Natürlich hätte meine Frau ihren Platz wechseln können. Nach einem kurzen Gebet entschied sie sich zu bleiben. Schliesslich war dies schon das zweite Mal, dass sie diesen beiden begegnete.

Wohl eine halbe Stunde lang musste sie sich nun mitanhören, wie sich die beiden Damen bitterlich über den langsamen Verlust ihrer Gesundheit beklagten. (Es ist sehr unangenehm, älteren Menschen zuhören zu müssen, die sich im Leben noch kaum einschränken mussten und sich gewohnheitsmässig um sich selbst kreisen.) Als sie aufstanden, kam der Hammer – oder besser gesagt die Gelegenheit. Die eine beugte sich zu ihr hinüber und meinte: "Es war sicherlich spannend zwei älteren Frauen zuzuhören." Sie sagte dies in einem ernsten Tonfall.

Meine Frau spürte den Ärger in sich aufsteigen und betete erneut. Dann meinte sie: "Ich bin Mutter von fünf Kindern und habe vieles losgelassen, was Frauen in unserem Land als selbstverständliches Recht für sich beanspruchen. Als meine Kinder ganz klein waren, fiel es mir auf, wie schwer sie es schon hatten, einen Gegenstand loszulassen. Nur in einem Fall klappte dies bestens: Wenn sie einen anderen Gegenstand sahen, den sie noch lieber hatten. Wir kennen eine Frau, die 96 Jahre alt ist. Ihr Alltag ist äusserst hart. Sie befindet sich auf der letzten Wegstrecke. Sie kann jedoch loslassen, weil sie etwas Wichtigeres vor Augen hat: Die kommende Herrlichkeit bei Jesus."

Das Gegenüber meinte betroffen: "Das kann man ja nicht selber machen." Damit traf sie den Nagel auf den Kopf. Diese Perspektive kann jemandem nur geschenkt werden. Wir beten dafür, dass meine Frau bei der nächsten Begegnung auf eine weise Art daran anknüpfen kann. (Ich riet ihr, vier Zettel mit "Gott", "Mensch", "Jesus" und "Antwort" vorzubereiten.) Die Frage stellt sich genauso für mich – und für dich: Was halten wir fest und wollen es nicht hergeben? Weshalb fehlt uns der langfristige Blick? Ich wünsche für mich den Stephanus-Blick – den Blick des Zeugen – für die kommende Herrlichkeit (Apg 7,55).