Kolumne: Gesehen werden

Sie sitzt in der Saison täglich für Stunden im kleinen Häuschen und verkauft Tickets für den Kinderlift. Wenn die Kleinen anstehen, hält sie den Bügel hin. Wenn ein Kind hinfällt, verlangsamt sie das Tempo. Ihr Verdienst, auf die Stunde gerechnet, fällt gering aus. So versieht sie ihren Dienst seit Jahrzehnten.

Die Eltern filmen ihre Kleinen mit dem Smartphone. Sie klatschen den Sprösslingen zu, wenn sie einen Bogen gefahren sind. Unten nehmen sie es in die Arme. Alle Aufmerksamkeit gilt dem eigenen kleinen Kreis. Die ältere Dame nimmt man hingegen nicht wahr. Man schaut sich höchstens kurze Zeit um, wenn sie etwas mürrisch den Bügel hinhält.

Eben auf diese Person richtete sich die Aufmerksamkeit meiner Frau. Sie geht mit dem Blick durch die Welt: Welche Person wird nicht gesehen? Ich möchte es noch ausdrücklicher formulieren: Diese Dame am Skilift ist es sich gewohnt übersehen zu werden. Auf ihrem faltigen Gesicht ist eine schwierige Lebensgeschichte eingegraben.

Am ersten Tag begrüsste sie meine Frau freundlich. Jemanden anzublicken und ihm bewusst die Hand zu geben ist der erste Schritt für einen Kontakt. Auf diese Weise signalisiert sie dem Gegenüber: Ich nehme dich wahr. Dabei rechnet meine Frau damit, dass eine raue Schale nicht beim ersten Kontakt abfällt. So war es denn auch.

Am Abend beteten wir gemeinsam für diese Frau. Am nächsten Tag fragte meine Frau nach. Sie stellte wie gewohnt einige Fragen zur Lebenssituation. Keine schwierigen, denn sie möchte einfach den Alltag des Gegenübers kennenlernen. Zugegeben, sie musste sich dazu überwinden. Über die Jahre hat sie dabei eine enorme Merkfähigkeit entwickelt. Sie kann sich Details von den Erzählungen anderer merken.

An den folgenden Tagen fragte sie dank diesen Kenntnissen gezielt nach. Das mürrische Gegenüber begann sich zu öffnen. Sie grüsste nicht nur meine Frau, sondern begann sich auch um unsere Jüngsten am Lift zu kümmern. Sie setzte sich dafür ein, dass ihre Skiausrüstung über Nacht im Restaurant aufbewahrt werden konnten.

Am Ende der Urlaubswoche kündigte sie meiner Frau an, dass sie am nächsten Tag nicht am Lift sein würde. Es gab eine herzliche Verabschiedung. Damit nicht genug. Am nächsten Tag winkte uns eine Frau im Bus liebevoll entgegen. Ihr Gesicht strahlte. Wer denkt ihr war es?

Menschen wollen gesehen werden. Besonders die Übersehenen. Ich bin überzeugt: Es sind diejenigen, zu denen Jesus sich gesetzt hätte. So tun wir es an seiner Stelle.