Feuer gefangen
Wann verpasse ich einer Biografie das Etikett „exzellent“? Wenn sie
- sorgfältig bis in die Details ausgearbeitet ist
- die Zitate passend so eingesetzt sind, dass ich das Lesen deswegen gerne verlangsame
- wenn das Buch in sich selbst ein Lesegenuss ist
Diese drei Kriterien treffen in besonderem Mass auf die Biografien von Joseph Pearce (* 1961) zu. Der Mann hat eine bewegte Lebensgeschichte hinter sich. Mit 15 Jahren trat er der britischen „National Front“ bei. Er kam zweimal ins Gefängnis. 1989 erlebte er eine Bekehrung vom Agnostizismus zum Theismus. Wesentlichen Anteil daran hatte seine Lektüre von Gilbert K. Chesterton (1874-1936). Seither lebt und schreibt er als überzeugter Katholik.
Die 2002 erschienene Biografie zu Hilarie Belloc (1870-1953) ist nach derjenigen zu G. K. Chesterton und Alexander Solzhenitzyn meine dritte. Ich wurde trotz hoher Erwartungen nicht enttäuscht.
Leiderfahrungen
Schon das Geburtsjahr Bellocs stand unter dem Stern des „Donners“. Pearce wählte die Metapher des Donners nicht nur als Titel für die Biografie, sondern auch als Motto für dessen Leben. Der Vater war kurz vor der Geburt seines ersten Sohnes nach Frankreich in seine Vaterstadt gezogen. Wenige Wochen nach Hilaires Geburt erreichten die Geschosse der deutschen Artillerie die Häuserzeilen der Familie Belloc. Die Familie musste fliehen.
Grosses Leid zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben Bellocs. Mit zwei Jahren verlor er seinen Vater. Seine Frau Elodie starb 1914 nach 18 Jahren glücklicher Ehe an Krebs. Er trug lebenslang schwarze Kleidung und heiratete danach nicht wieder. Im ersten Weltkrieg starb sein ältester Sohn Louis als Pilot einer Fliegerstaffel; sein jüngster Sohn Peter kam im Zweiten Weltkrieg ums Leben. 1918 war schon der enge Freund Cecil, der Bruder Gilbert Chestertons, in einem Lazarett in Frankreich an einer Krankheit. Schliesslich überlebte er seine engsten Freunde Gilbert Chesterton (gest. 1936) und Maurice Baring (gest. 1945) um Längen.
Nicht zu unterschlagen sind die 12 letzten Lebensjahre Bellocs. Er erholte sich von einem Hirnschlag im Jahr 1941 nie mehr richtig. Die weiteren Jahre waren von stetigem kognitiven „Verfall“ geprägt. Es ist dem Biografen hoch anzurechnen, dass er ehrlich aus Briefen von Freunden und Bewunderern berichtet, die seine schlechte Verfassung schonend, aber klar darstellten. Ein verwirrter, magerer alter Mann mit verkleckerten Kleidern und wirrem Geist, das war Belloc im letzten Teil seines Lebens. Nun aber zur Frage:
Wer war Hilaire Belloc?
Ich greife zweite Zitate aus dem Buch heraus. Er war „einer der besten und begabtesten Essayisten des 20. Jahrhunderts“ (2716, Kindle-Position). Die beste Zusammenstellung seiner Fähigkeiten kommt aus dem Mund eines Freundes. Er war “Meister der englischen Prosa, ein brillanter Gesprächspartner, ein beachtenswerter Poet, ein formidabler Führer öffentlicher Debatten, ein Historiker, der die anti-katholische Opposition zur Weissglut treiben konnte, ein Satiriker, ein Weltenbummler, ein Polemiker, ein Bürger Europas, Prophet des Sklavenstaates“ (3848ff).
Familie
Über das Familienleben Bellocs ist einiges zu erwähnen. Nicht alles davon ist nachahmenswert. Einige Aspekte dienen mir zur Warnung. Zunächst ist die aussergewöhnliche Hartnäckigkeit bei der Eroberung seiner Frau herauszuheben. Er verkaufte all seinen Besitz, um ein Ticket für die Überfahrt nach Nordamerika bezahlen zu können. Er trampte von der Ost- zur Westküste und wieder zurück, um die Angebetete in Kalifornien zu besuchen. Von der künftigen Schwiegermutter, die noch vor der Heirat starb, wurde er schroff zurückgewiesen. Elodie trat für kurze Zeit in ein Kloster ein, merkte dann aber, dass sie Hilaire liebte. Dieser holte sie nach ihrer Einwilligung nach Europa. Dies alles spielte sich zu Studentenzeiten ab, als Hilaire praktisch mittellos war, jedoch schon als Redner der Studentenunion in Oxford zu grosser Bekanntheit gelangt.
Zweitens ist sein rastloser Geist hervorzuheben. Schon als die Kinder ganz klein waren, verliess er die Familie immer wieder, um auf Wanderschaft zu gehen. Er pilgerte zum Beispiel in der Winterzeit zu Fuss durch Frankreich und die Schweiz nach Rom. Unterwegs verdiente er sich mühsam das Reisegeld und den Unterhalt der Familie durch Schreiben.
Er verlebte glückliche Jahre mit Elodie. Gemeinsam mit ihr klapperte er mit dem Fahrrad Dorf um Dorf ab, bis er ein altes Landgut fand, kaufte und liess es umbauen. Der frühzeitige Krebstod seiner Frau Elodie öffnete dann eine Wunde, die lebenslang nie heilen würde (3316). Ein Kind berichtete, dass nach dem Tod der Mutter das Leben für die fünf hinterbliebenen Kinder nie mehr dasselbe war. Der Vater hätte zwar sein Bestes gegeben. Es sei ihm jedoch über Strecken zur Bürde geworden, die seine Kräfte bei weitem überstiegen hätten (3368).
Die Kinder waren (zu) oft sich selbst überlassen und in der Umgebung bekannt für riskante Abenteuer. Es macht den Eindruck, dass sie verwilderten. Die älteste Tochter übernahm die Mutterrolle, bis sie dann heiratete. Nachher nahm niemand mehr ihre Stelle ein, was die Atmosphäre im Haus stark belastet haben musste. Die älteste und jüngste Tochter hatten lebenslänglich einen grossen Konflikt. Die jüngste Tochter, schriftstellerisch sehr begabt, landete teilweise auf der Strasse. Der Vater musste ihr immer wieder Geld zuschiessen und war stets um ihre Gesundheit sehr besorgt. Auch andere Kinder wurden von der Unrast des Vaters erfasst.
Berühmt, aber nicht reich
Ein weiterer lehrreicher Aspekt von Bellocs Leben ist seine Kombination aus Bekanntheit und Geldknappheit („fame without fortune“, 2479). Diese dauerte nicht nur in jungen Jahren an, sondern betraf insbesondere auch das Alter nach seinem gesundheitlichen Einbruch. Sein Leben war konstant von Geldsorgen begleitet.
Schon früh klagte er, dass er es müde sei, sein Einkommen aus unzähligen Artikeln und Büchern zusammen zu zu verdienen. Er sehnte sich nach regelmässiger Arbeit und Bezahlung (2323). Zwischenzeitlich generierte er beträchtliche Einnahmen, die er teilweise in die Restauration seines alten Anwesens investierte. Interessanterweise war die einträglichste Zeit seines Lebens der Erste Weltkrieg. Während den Kriegsjahren schrieb er wöchentliche Artikel für eine Zeitschrift mit Analysen des Kriegsgeschehens. Diese wurden sehr gut gelesen und erschienen später in Buchform. Die Armut lauerte jedoch um die Ecke. Die erwachsenen Kinder waren wiederholt auf seine Unterstützung angewiesen, so der Schwiegersohn, der vergeblich eine katholische Schule aufbaute.
Belloc war zwar sehr oft bei Adligen und Reichen eingeladen, weil er ein überragender Gesprächspartner war („evenings would finish in long talks, the endless serious talks of youth, ranging over every topic from Transubstantiation to Toggers, and from the last row with the Junior Dean to Predestination and Free-will“, 1349). Er fühlte sich in dieser Gesellschaft jedoch nie richtig wohl. Während des Generalstreiks 1906 schon schlug sein Herz für die Seite der Arbeiter.
Nicht unterschlagen werden darf sein Einsitz im englischen Unterhaus, der einen Kammer des englischen Parlaments zwischen 1906 und 1910. Er machte sich nicht nur bei der eigenen Partei äusserst unbeliebt, sondern wurde trotz unermüdlichem Einsatz – er galt als der härtest arbeitende Abgeordnete – kaum für seinen Einsatz entlohnt.
Als Katholik in England
Schon Bellocs Mutter war eine hingegebene Katholikin. Ihr Sohn war es auch, dessen Frau Elodie ebenfalls. In einem Preiswettkampf in Oxford schnitt er nicht auf den vordersten Rängen ab, was er auf seine Konfession zurückführte und was sein Lebensgefühl prägte. Er sah sich als Angehöriger einer diskriminierten und verfolgten Minderheit, ja als Fremder in seinem eigenen Land („the Catholics feel that they are in a sense exiles in this country, misunderstood both in regard to their vices and their virtues“, 2290). Dazu kam seine Liebe für Frankreich, die ihn in jungen Jahren sogar zweimal in das Land seiner Geburt trieben und sogar in den Militärdienst treten liess. Diese Liebe kam in seinem Heimatland schlecht an.
Interessanterweise entwickelte sich Belloc – mehr noch als sein Weggefährte Chesterton – zum „Evangelist der Katholiken“. Eine beträchtliche Anzahl junger Gelehrten und Literaten trat während seiner Lebenszeit und auf seinen direkten Einfluss zurückgehend zum katholischen Glauben über. Der Höhepunkt stellten die 1920er Jahre dar. Übrigens konvertierten um 1930 herum in GB jährlich ca. 15‘000 Personen zum Katholizismus. Dies erklärt den grossen Optimismus Bellocs für seine Konfession („The Faith, the Catholic Church, is discovered, is recognized, triumphantly enters reality like a landfall at sea which first was thought a cloud“, 3781). Natürlich spielt hier auch der Katholizismus des Biografen Pearce mit hinein, welcher schreibt: „The metaphor is not that men fall in love with it: the metaphor is that they discover home” (3783).
Männerfreundschaften
Diese Bekehrungen kamen nicht aus dem Nichts heraus. Schon früh entwickelte Belloc einen ausgesprochenen Sinn für Männerfreundschaften. Die Kinder Bellocs berichteten von Besuchen seines Freundes Gilbert Chesterton, während deren Belloc stundenlang im Gras liegen und ununterbrochen mit seinem Freund sprechen und lachen konnte. Übrigens war Chesterton mit seinen Karikaturen für Bellocs Bücher eine unentbehrliche Inspiration für das schriftstellerische Schaffen seines Freundes.
Dass Freunde schliesslich konvertierten, ist sicherlich auch der jahrelangen engen Verbundenheit zuzuschreiben. Dabei ging es zuweilen sehr weinselig zu. Es scheint mir, dass – abgesehen vom übermässigen Alkoholgenuss – es unserer Zeit wohlanstehen würde, wenn solche Männerfreundschaften wieder aufleben würden. Es braucht diese nächtelange Auseinandersetzung mit den Fragen der Existenz und den Problemen der eigenen Zeit. Einige Namen wie Wyndham Lewis und J. B. Morton sind neu auf meine Leseliste gesetzt worden.
Standpunkte
Bisher habe ich mich ausschliesslich biografischen Einzelheiten zugewandt. Hier verweise ich auf einige inhaltliche Positionen im Originallaut:
- Belloc gilt als Vordenker des dritten Weges neben Sozialismus und Kapitalismus, Distributionsimus genannt. Defintion: „(I)deal of freedom that was rooted in the economic and political independence of the individual possessor and producer of wealth.“ (1312)
- Gegen Sozialismus: „Socialism offered what purported to be an obvious and simple remedy, the abolition of private property in land and in the means of production and its replacement by centralized State control.“ (2740)
- Gegen Kapitalismus: „The problem resided in private property being collected into the hands of too few people.“ (2748)
- Gegen totale Kontrolle des Bürgers, wie sie sich beispielsweise in der Abstinenzbewegung äusserte: „His attitude to the teetotalitarian puritanism of the Temperance movement and to the embryonic feminism of the suffragettes was linked to a deep-rooted belief that both “fads” were inspired by the patronizing, or in the latter case the matronizing, assumption that working-class prejudice and ignorance could be steamrollered by “enlightened” views.“ (2792)
- Gegen Männerarbeit für Frauen: „The role of motherhood in underpinning the healthy fabric of society would, he said, be undermined if women were to take on masculine functions.“ (2818)
- Für den zentralen Stellenwert der Familie: „(P)olitical and economic power should begin with the family and that the usurpation of such power by big business or central government should be rectified by its devolution from larger to smaller institutions.“ (4033)
- Für eine Neubewertung der Reformation in Grossbritannien: „The “community” of Old England had been undermined by the emergence of a powerful plutocracy in the wake of the Protestant Reformation.“ (1316)
- Selbstgenügsame Republik und demütige Kirche: „(If you have) stoicism of the Republic and the humility of the Church (for they can co-exist) then you will have the perfect state.” (1725)
- Kleine Ortschaften und Staaten im ständigen Kampf gegen die Übermacht von grösseren Gebilden: „…perennial struggle of small communities and small nations to survive and express themselves in the face of the encroachment of the centralizing tendency of monolithic Power.“ (1996)
- Religion vor Politik: „My religion is of course of greater moment to me by far than my politics, or than any other interest could.“ (2070)
- Kein Europa ohne Glaube: „I desire you to remember that we are Europe; we are a great people. The faith is not an accident among us, nor an imposition, nor a garment; it is bone of our bone and flesh of our flesh: it is a philosophy made by and making ourselves. We have adorned, explained, enlarged it; we have given it visible form. This is the service we Europeans have done to God. In return He has made us Christians.“ (2409)
- Die Metapher für den schädlichen Einfluss des Modernismus: „the solid “Tree” of Tradition (versus) the vague “Cloud” of Modernism“ (2577)
- Zum Teil unglückliche Äusserungen über die Juden, jedoch kein Antisemit. „He liked or disliked a Jew as he liked or disliked any other man.“ (4091)
- Die Prognose für das Nachkriegseuropa: „the active negation of all that western culture has stood for.“ (4410)
- Die fatalen Auswirkungen der Fortschrittsgläubigkeit: „Belloc had foreseen that a credulously optimistic faith in scientific “progress” could lead to “sheer darkness” and “strange things in the dark,” whereas Wells could only see a bright future and a brave new world of enlightened scientific thinking.“ (4559)
Vorzeitig altern – verschobenes Selbstbild
Ich kehre zurück zu einer biografischen Notiz. Belloc hat schon mit 50 Jahren das Gefühl gehabt, sein Stern sei am Sinken. Er verliere die Kraft zum Schreiben. Dem war – zumindest für die nächsten 15 Jahre – nicht so. Pearce schreibt:
(He) would continue to write prodigiously, producing several books and dozens of essays every year; he would continue to make friends and infuriate enemies; he would travel and travail as though he were a man many years younger. (4380)
Diese falsche Selbsteinschätzung bezog sich insbesondere auch auf seine ungestillte Wander- und Reisetätigkeit. Schon als junger Mann war sein Motto:
The best way of all is on foot, where one is a man like any other man, with the sky above one, and the road beneath, and the world on every side, and time to see all.“ (1625)
Wenn er einen Verlust zu verkraften hatte, ging er auf ausgedehnte Wanderreisen in Europa und Amerika. Seine Reisen führten ihn aber auch nach Afrika und in den Nahen Osten. „Belloc’s wanderlust for the hills and the sea, always a comfort in times of desolation, was undiminished.“ (3809)
Belloc besass während Jahrzehnten ein eigenes Segelschiff, auf das er oft Freunde und jüngere Akademiker und Literaten einlud. Seine vielen Wanderungen zu Fuss war häufig Inspiration zum Schreiben
Interessante Lektüre (Auswahl)
- Der Weg nach Rom (deutsche Übersetzung erhältlich)
- Der Sklavenstaat (2019 erscheint eine deutsche Übersetzung)
- Die grossen Häresien: Der Kampf gegen Europa (2019 erscheint eine deutsche Übersetzung)
- Die Französische Revolution (deutsche Übersetzung erhältlich)
- Europe and the Faith
- The Party System (aus seiner Zeit als Parlamentarier)
- An Examination of Socialism; The Church and Socialism
Viele seiner Werke sind online als Texte und Hörbücher umsonst erhältlich.