Durch die Lektüre von Werner Neuers Dissertation „Der Zusammenhang von Dogmatik und Ethik bei Adolf Schlatter. Eine Untersuchung zur Grundlegung christlicher Ethik“ (S. 257ff) wurde mir bewusst, weshalb sich die Ethik in frommen Kreisen so rasant verschiebt.
Kurzgefasst
- Ziel der Dogmatik: Erkenntnis von Gottes Wesen und Werk
- Ziel der Ethik: Erkenntnis des aus Gottes Wesen und Werk ergebenden Willens Gottes
Theologische Entwicklung
Die relative Eigenständigkeit der Ethik ist Frucht einer theologischen Entwicklung. Lange Zeit sah Schlatter die Dogmatik als ausreichend und eine separate Ethik als unnötig an. Er vertrat die Ansicht, dass mit der Dogmatik die Prämissen zum Handeln genügend deutlich seien. Dogmatik war für ihn nie „zur Füllung des Intellekts“, sondern zur Begründung des Willens Gottes da. Dies müsse zur ethischen Pflicht des Menschen führen.
Schlatters doppelte „erkennende Arbeit“ bestand darum zunächst im Verfassen einer Theologie des Neuen Testaments und der Dogmatik. Erst zwischen 1911 und 1914 (ergänzt 1924 und 1929) widmete er sich unter Sträuben der Ausarbeitung einer Ethik. Dies war kein Bruch zur bisherigen Arbeit, sondern als „kritische Vollendung“ zu sehen. 1912 vertrat er die Ansicht, dass die Theologie ihre Pflicht ohne eigenständige Ethik nicht erfülle. Es gehe darum, wie sich die dogmatischen Themen wie Liebe, Busse, Gewissen, Gehorsam, Wille Gottes in der „geschichtlichen Situation der Gegenwart“ realisieren. Damit wird die Ethik zum Endziel des christlichen Denkens (1920).
Zusammenhänge
Gottes Werk in Schöpfung und Erlösung | das daraus sich ergebende Werk des Menschen |
Grund des Glaubens | Ziel des Glaubens |
Christliche Erkenntnis | christlicher Wille |
Blick aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurück | Ausblick in die Zukunft |
Gottes Werk | Gottes Gebot |
Wirklichkeit | sittlich Gutes |
Sein | Sollen |
deskriptiv | normativ |
Fazit
Die geschichtliche Gestalt der christlichen Sittlichkeit vollendet die von der Dogmatik begonnene Arbeit. Das dem Glaubenden geschenkte neue Sein verwirklicht sich durch den aktualen Gehorsam. Alle wirkliche Sittlichkeit hat damit in seinen Ursprung in Gott selbst.
Es handelt sich also um eine relative Selbständigkeit der Ethik. Sie ist sowohl von ihrer Begründung also von ihrem Inhalt her von der Dogmatik abhängig. Veränderungen in der Dogmatik schlagen damit voll auf die Ethik durch!
Anwendung für heute
Weil die Dogmatik so lange brach lag, wurde das Vakuum sukzessive durch säkulare Dogmen ersetzt. Damit ist auch die Ethik einem ständigen Veränderungsprozess unterworfen.