Der deutsche Rechtsphilosoph Friedrich Julius Stahl (1802-1861) schreibt in seinem gedruckten Vortrag über christliche Toleranz über die fundamentale Verschiebung des Begriffs:
Ja, sogar von der aufgeklärten Kirche, als welche zu betrachten man dem Protestantismus die Ehre erweist, fordert man diese Toleranz, dass sie jedweder Ansicht, der gläubigen wie der ungläubigen, dasselbe Recht auf Lehrstuhl und Kanzel einräume. … Das Äusserste des Tadels trifft daher die Exklusivität, das ist dass eine religiöse Überzeugung den Anspruch auf ausschliessliche Wahrheit und Berechtigung macht.
Dem stellt er das Wesen christlicher Toleranz gegenüber:
Zunächst überbietet das Christentum jedwede andere Denkart in demjenigen, was die allgemeine Grundlage aller Toleranz ist, in der Liebe, die alles trägt und duldet, in der Demut, die, der eigenen Sünde bewusst, über den Nächsten nicht richtet, in der Hochhaltung des Ebenbildes Gottes im Menschen, welche ihm freie, innerliche Entscheidung gönnt, in der Bescheidung, dass der Weltrichter Weizen und Unkraut erst jenseits sondert.
Stahl zählt später folgende Merkmale dieser (wahren) Toleranz auf:
- Keine Scheidewand des Glaubens bei persönlicher Not des Nächsten
- Keine scharfe Grenzlinie nach äusseren Kriterien der Rechtgläubigkeit
- Freude überall, wo Gott verherrlicht wird
- Kein Ärgernis für Schwächere, die im Gewissen gebunden sind
- Wehrt sich nicht gegen die, welche im Namen Christi Teufel austreiben
- Eifer für das, was christlich ist (nicht aber für Paulus oder Apollos)
- Bekehrung, nicht Vernichtung seiner Feinde
Auch wenn ich Stahl nicht gänzlich folge: Der Vortrag ist eine Goldgrube.