Kolumne: Joshua Harris – erfolgreich gescheitert?

In einer inhaltlich dürren Mitteilung auf Instagram kündigte der attraktive Mittvierziger Joshua Harris, bekannt geworden durch seine Bücher zur christlichen Dating-Kultur, die Trennung von seiner Frau Shannon an. Die Mitteilung kam vier Jahre nach der Ankündigung, sich aus dem Pastorendienst zurückzuziehen.  Inzwischen hatte Harris «Opferforschung» unter seinen Lesern betrieben. In einem Interview gab er zu Protokoll, dass er nicht mehr in das Pastorenamt zurückkehren wird und ausserdem grundsätzliche Zweifel am Glauben hege. Diese Bekanntmachung hat meine Frau und mich in den vergangenen Tagen beschäftigt.

Es liegt mir fern, mit Fingern auf ihn zu zeigen. Nicht nur bin ich im selben Alter wie Joshua Harris, sondern dasselbe sündige Herz in mir. Unvergesslich bleibt mir der Moment, in dem Asfa Wossen Asserate mir mein Exemplar seines Buches «Manieren» mit der Widmung übergab: «Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.» Meine Haltung soll mehr der des biblischen Buches der Sprüche gleichen, der still steht, aufmerkt und dann zu Jesus aufsieht. Leider tendieren wir dazu, Ziele anzustreben und sie dann «abzuhaken». Der Heiligungsprozess endet erst dann, wenn wir über die irdische Ziellinie stolpern oder gezogen werden. (Freunde, wenn ihr merkt, dass Hanniel zu entschweben droht, dann meldet es ihm.)

Zuerst nehme ich wahr, was Menschen nach vollzogenem Bruch und der Neuorientierung betonen und wovon sie nicht sprechen. Sie sprechen von ihren wundervollen Kindern; sie verschweigen, dass diese bereits schrecklich unter ihrer Sünde gelitten haben und weiter leiden werden. Sie sprechen von einer schwierigen Zeit; sie schweigen darüber, ob und dass sie Busse vor Gott getan haben. Sie führen Interviews über die Pläne und die nächsten Karriere-Meilensteine; sie schweigen über den schrittweisen Rückzug aus Überzeugungen und Diensten. Sie stellen sich in einem hippen Outfit dar; sie schweigen über die Änderung ihrer täglichen Gewohnheiten im geistlichen Bereich.

Vor allem scheint es in der Phase der Neuorientierung ein Zauberwort zu geben: «Gesetzlichkeit». Die vergangene Lebensetappe wird einer alten Truhe gleich mit dem Etikett der Gesetzlichkeit in die Rumpelkammer der Vergangenheit verbannt. Dabei ist zu bedenken: Wer von Gesetzlichkeit spricht, muss über einen Massstab verfügen. Wer etwas als “falsch” beurteilt, muss über eine Vorstellung des Richtigen verfügen. Hierbei spielt der Begriff «Autonomie» eine wesentliche Rolle. Dies bedeutet wörtlich «Selbst-Gesetzlichkeit». Der säkularisierte Mensch, der Gott aus seinem Denken und Handeln ausschliesst, nimmt Mass an sich selbst.

Dabei sage ich nicht, dass Joshua oder ich selbst nicht dazu tendieren würden, eigene Gesetze aufzustellen. Nur zu schnell erklären wir unseren eigenen Lebensweg zum Ideal und Massstab für andere. Dies mag auch in seinen Büchern stellweise der Fall sein. Je nach Lebensverlauf, Begabung und Situation sind andere Betonungen nötig. Ich will hier herausstreichen, dass Harris im Moment, in welcher er das Anathema über seine vergangenen 25 Jahre ausspricht, seinen geänderten Massstab darauf anwendet. Er urteilt mit seiner angepassten persönlichen Ethik, also der gelebten Antwort auf die Frage, was für ihn gutes Leben darstellt, über Äusserungen seiner Vergangenheit.

Aus der Diskussion mit meiner Frau und vielen schmerzlichen Erlebnissen aus der eigenen Lebenswelt stelle ich (vorsichtig) einige Beobachtungen auf. Harris schrieb in seinem Folgebuch zu «Ungeküsst», dass seine Frau aus zerrütteten Familienverhältnissen stammt. Das ist nun keine Seltenheit, sondern der Regelfall in vielen Ehen. Es bedeutet auch nicht, dass dies langfristig zu Folgeschäden führen muss. Es wird jedoch deutlich, dass wir in unserer sündigen Existenz – auch als gerechtfertigte Sünder – bis zum letzten Atemzug gegen Sünde, Welt und Teufel zu kämpfen haben werden. Eine geistlich gesegnete Anfangszeit der Ehe bedeutet nicht zwingend gutes Vollenden.

In einem anderen Vortrag sprach Harris davon, dass er sich stark genug wähnte, um fehl zu gehen. Er spricht die Kultur des erfolgreichen Scheiterns an. Diese ist der christlichen Weltanschauung entnommen und dann stark verfremdet worden. Inwiefern? Scheitern ist Verfehlen eigener Ziele und Ideale; Sünde ist die Verfehlung gegenüber dem göttlichen Gesetzgeber. Selbstbewusstsein zu behalten bedeutet eine Neudefinition gegenüber sich selbst; seinen Zerbruch einzugestehen und sich gegenüber Gott zu demütigen (wie es David getan hat), ist nicht nur das Anerkennen von Versagen. Es ist auch das Eingeständnis, dass ich es allein nicht schaffe und auch nie schaffen werde. Scheitern erhält in der Definition von Harris eine andere Färbung: Ich stecke mir jetzt neue Ziele und gehe weiter. Das nächste Experiment ist bereits gestartet. Dies ist eine zeitgenössische Form des Verdeckens von Schuld und Scham.

Wie ergeht es den Frauen in Phasen der «Neuorientierung»? Die Denkvoraussetzung scheint zu lauten: Ich kann einen bisherigen Lebensabschnitt beenden. «Ich habe so und so viele Jahre in meine Kinder investiert. Diese Phase ist nun abgeschlossen.» Dann folgt der Schlüsselsatz: «Jetzt bin ich wieder dran.» Wie oft habe ich diese Äusserung schon gehört. Hier liegt meines Erachtens das Unheil begraben. Die Kinderphase war eine mehr oder weniger freiwillige Phase des Opfers und des persönlichen Verlustes. Diese Bewertung ist exakt die des Säkularismus: Es gilt möglich viel herauszuholen. Es geht um Selbstoptimierung. Das «Projekt Kinder» steht damit im Rückblick auch unter der Prämisse der Selbst-Verwirklichung.

Zudem steckt die (irrige) Meinung dahinter, dass Lebensdrehbücher fast beliebt manipulierbar seien. Ja, die Frau nach Vierzig steckt in der zweiten Lebenshälfte. Ihre äussere Attraktivität – gemessen an der Peer der Online-Welt – geht rasant dahin. (Die innere Schönheit und Ausstrahlung kann in dieser Phase rasant zunehmen.) Dies verstärkt die Grundunzufriedenheit. Also gilt es wenigstens in der beruflichen Welt noch zu holen, was zu holen ist. Unsere Biografie ist jedoch ein einziges Stück. Es mag Szenen geben, an die wir uns nie mehr zurückerinnern wollen. Ich sage es in aller Deutlichkeit: Nicht jede Chance, die man packen kann, lohnt sich. Auch die vermeintliche letzte Ausfahrt in der Lebensmitte nicht.

Weisheit ist gefragt. Manche Korrekturen, zum Beispiel bezüglich Wohnort oder beruflicher Orientierung, können und sollen vorgenommen werden. Doch in welcher Perspektive steht diese? Orientiert sie sich am göttlichen Gesetzgeber? Zielt sie über dieses Leben hinaus? Hat sie die nächsten Generationen im Blick? Geht es darum, andere zu lieben? Es ist schade, Dinge über Bord zu werfen, weil wir der Mühen des mittleren Alters einfach überdrüssig geworden sind. Ich orientiere mich an Menschen, die in diesen Jahren durchgehalten haben und in Christus zu Reife gelangt sind. Ich weiss schon, durchhalten widerspricht dem säkularen Evangelium. Grenzen und akzeptieren und noch mehr: Mit den Langzeitfolgen von Sünden aus der Kraft Gottes zu leben. Dies hätte ich mir nicht nur für Joshua und Shannon gewünscht, sondern für jeden von uns und mich zuerst.