Standpunkt: Dreht der “Marsch fürs Läbe” das Rad des Fortschritts zurück?

In der Luzerner Zeitung ist ein interessanter Kommentar erschienen.

Wortlaut Bemerkungen
Der «Marsch fürs Läbe» ist eine politisch Demonstration ohne Aussicht auf Veränderung. Das Recht auf Abtreibung ist unbestritten. Die Fristenlösung fand vor Jahren an der Urne eine klare Mehrheit. Daran dürfte sich substanziell seither auch nichts geändert haben. Die Mehrheit bestimmt über Gesetze (und setzt sich damit absolut), auch wenn sie die Tötung der Schwächsten betreffen.
Natürlich darf man trotzdem einen «Marsch fürs Läbe» machen. Aber es ist dann mehr als eine politische Demonstration. Es wird zur Provokation. Die Meinungsfreiheit erfährt ihre Bewährung in der Provokation. Eine Provokation ist die prononcierte Äusserung einer abweichenden Meinung. Wer sagt: «Dies ist halt meine Meinung», äussert eben nicht nur seine Meinung. Sondern er weiss, dass sich dann jemand aufregt. Er äussert seine Meinung nicht als Beitrag zu einer Diskussion oder Debatte, sondern er will Aufregung hervorrufen. Abweichende Meinungen rufen Aufregung hervor. (Aber doch nur, wenn etwas dran ist.)
Die Provokation als prononcierte Äusserung einer abweichenden Meinung wird vorzugsweise von Minderheiten gebraucht. Wer sich im Besitz einer Mehrheitsmeinung weiss, braucht nicht zu provozieren. Zustimmung. Die Leitreligion (Säkularismus) setzt die Mehrheitsmeinung. Sie setzt sich damit auf den Sockel des Beurteilers; alle anderen Glaubenssysteme sind von Anfang an unterlegen.
Wer am «Marsch fürs Läbe» teilnimmt, setzt sich eben nicht nur für «das ungeborene Leben» ein oder für die Akzeptanz von Behinderten, sondern hier steht eine Front, welche das Rad des Fortschritts (oder der Zeit) zurückdrehen will. Leute, die der Frau nicht nur das Recht auf den eigenen Körper, sondern alle möglichen mühsam erworbenen Rechte wieder absprechen wollen. Zwei Dogmen (Glaubenssätze) des Säkularismus: Das Rad des Fortschritts: Wer sagt denn, dass Veränderung per Definition besser ist? Das Recht der Frau auf den eigenen Körper wird höher gewichtet als das des ungeborenen Kindes.
Es geht hier um Emotionen, nicht um die Klärung eines Problems oder um die Durchsetzung eines politischen Anliegens. Wer mag, darf es «Moral» nennen. Der Begriff hilft hier einfach nicht viel weiter. Denn es geht nicht um ein moralisches Problem, sondern um Werte, die aufeinanderprallen. Konservativ gegen progressiv, Bibeltreue mit einem Text als kulturgarantierender Leitfaden gegen einen Individualismus, der keine kollektiven Ansprüche, die nur als solche daherkommen, akzeptiert. Richtig erkannt: Es geht auf beiden Seiten um Moral. Die Gegenseite möchte gewaltsam eine andere Form der Moral durchsetzen.
Auf der einen Seite durch das Gefühl des Identitätsverlusts (Islam, Heimat, Zuwanderung, Flüchtling usw.), auf der anderen Seite durch das Gefühl, Opfer eines Reaktionismus zu werden, zu verlieren, was man Gesellschaftlich-Fortschrittliches erworben hat. „Reaktionismus“ ist ein Trigger-Begriff des Säkularismus. Er referenziert auf die Zeit, als sein Glaubenssystem noch nicht unangefochten war.
Und die Meinungsfreiheit? Eine sehr kritische Sache. Funktioniert eigentlich nur bei gesellschaftlich-politischem Schönwetter. Wenn man geneigt und fähig ist, die andere Meinung als Argument im Dialog zu respektieren. In Zeiten der Aufgeregtheit immer ein Balanceakt. Toleranz muss, wenn sie echt sein soll, weh tun. Und zwar richtig. Sonst ist sie geschenkt. Zustimmung. Meinungsfreiheit und richtig verstandene Toleranz (Zulassen von anderen Meinungen) ist in Gefahr zu verschwinden.
Wann wird eine Meinungsäusserung zur Hetze? Auch das ist in Zeiten der Aufgeregtheit schwierig. Aber christlichem Fundamentalismus sollte man mittlerweile gelassener gegenübertreten können. „Hetze“ ist ebenfalls Triggerwort, denn nichts ist dem säkularen Menschen heiliger als seine Ungestörthiet. Ebenso Fundamentalismus: Dieser würde richtigerweise definiert mit „Durchsetzung der eigenen Weltsicht mit Gewalt“. Wer handelte da also fundamentalistisch?

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