In der ersten Folge habe ich über den Manuskript-Fund von Herman Bavinck aus dem Jahr 1919 berichtet. Eng mit der neuen Generation verbunden und den theologischen Umbruch nach dem Ersten Weltkrieg witternd, sah er die Frage nach dem Schriftgebrauch im Zentrum zukünftiger Diskussionen.
Graafland verweist in seinem Vortrag auf einen Brief von Bavinck an Netelenbos bezüglich dessen abweichenden Schriftlehre. Die Broschüre habe ihm wegen der Wärme, mit der sie geschrieben worden war, und wegen der starken Betonung des Wesentlichen, nämlich der persönlichen Bindung des Glaubens an den lebendigen Christus, geholfen. Stimmte Bavinck damit gar der Position von Netelenbos zu? Dies würde wiederum der Zwei-Bavinck-Hypothese Vorschub leisten, wonach der aus einem reformiert-pietistischen Umfeld stammende Bavinck zeitlebens mit der Moderne rang und sich in seiner zweiten Lebenshälfte, besonders aber in seinen letzten Lebensjahren, von der ersten Position verabschiedet und sich der zweiten zugewandt habe. (In meiner Dissertation habe ich diese Hypothese besprochen und mich den Befunden der beiden neueren Dissertationen von James Eglinton und Brian Mattson gegen diese Hypothese angeschlossen.)
Cornelis Trimp führt in seinem Aufsatz einige Vermutungen an, die im Verlauf der Jahre über den späten Bavinck geäussert worden sind:
- Bavinck sei in seinen letzten Lebensjahren ein desillusionierter Mann gewesen. Die Entwicklung der reformierten Kirchen hatte nicht das gebracht, was er erwartet hatte. Vielmehr sah er unter den Reformierten alle möglichen Formen von Triumphalismus, Selbstvertrauen und oberflächlichem Leben, während gleichzeitig Konservatismus und Konfessionalismus einer gesunden Erneuerung mit Blick auf die Zukunft im Wege standen. Dadurch sei eine Atmosphäre toter Orthodoxie entstanden, die sich in einer Verehrung des neokalvinistischen ”Systemdenkens” mit seinen ”ewigen Prinzipien” ausdrückte.
- Der Erste Weltkrieg hatte ihn zutiefst schockiert und jeden kulturellen Optimismus zunichte gemacht, der für die 1890er-Jahre so charakteristisch gewesen sei und die kulturelle Ideale von Abraham Kuyper verkörperte.
- Bavinck hätte sich dem Trauma nicht entziehen können, das sein Abschied von Kampen und sein Übergang zur Freien Universität (1902) in seiner Seele hinterlassen hatten. Viele alte Freunde hatten sich gegen ihn gewandt. Am Ende fühlte er sich im Klima in Amsterdam nicht wohl.
- Bavinck hätte mit ernsthaften Zweifeln an der Legitimität der getrennten Existenz der reformierten Kirchen zu kämpfen gehabt.
- Dahinter hätten Zweifel an der Wirksamkeit und Legitimität seiner eigenen Aussagen über das Dogma der Heiligen Schrift und ihre absolute Autorität gestanden (Art. 5 Niederländisches Glaubensbekenntnis).
Kann Bavinck also letztlich nicht für ein Schriftbekenntnis im Sinne der reformierten Bekenntnisschriften in Anspruch genommen werden? Manche Vertreter, darunter der durch seine opulente Dissertation bekannt gewordene Jan Veenhof («Revelatie en inspiratie: De Openbaringsen Schriftbeschouwing van Herman Bavinck in vergelijking met die der ethische theologie», 1968), gehen in diese Richtung. Richard B. Gaffin in seiner Studie “God’s Word in Servant-Form: Abraham Kuyper and Herman Bavinck and the Doctrine of Scripture” (2008) hält dagegen.
Sehen wir uns die eingebrachten Argumente zunächst von Trimp an:
- Bavinck hat sich nie öffentlich für Netelenbos und seine Überlegungen eingesetzt, weder in der Presse noch auf der Synode von Leeuwarden 1920.
- Die Grundbesorgnis war eine andere. In der Broschüre würden wir einem Mann begegnen, «der sich in seinen letzten Jahren mit Sorge fragte, ob die reformierten Kirchen wissenschaftlich und mental ausreichend gerüstet waren, um den modernen Entwicklungen in Wissenschaft und Kultur zu begegnen. Etwas verallgemeinert: Bavinck sah das Wasser der Säkularisierung und des kulturellen Niedergangs in den Niederlanden und Europa steigen und hatte tiefe Bedenken wegen der Qualität der Deiche.»
- Bavinck erlebte den Fall Netelenbos «als Signal für den Beginn einer neuen Ära, mit neuen Denkweisen», denen nicht dadurch beizukommen war, dass alte Denkergebnisse wiederholt und auf Prinzipien bestanden wurde.
- Der Fall mochte Bavinck davon überzeugt haben, dass sich sein Argument einer organischen Inspiration leicht von einer anderen theologischen Schule vereinnahmen lassen konnte.
- Bavinck erkannte, dass gerade die Ablehnung der Schriftkritik die Notwendigkeit der hermeneutischen Aufgabe umso dringender machen würde. Es galt den aufgeworfenen Fragen sorgfältig nachzugehen.
- Letztlich ging es um die Fortführung Bavincks lebenslanger Aufgabe: Was bedeutet die Bibel für die Fragen des modernen Lebens? (Ich füge hinzu: Bavinck dürfte gefühlt haben, dass hier weitere Studien nötig waren – etwas, was er nicht mehr leisten können würde.)
Bavincks Batterie an offenen Fragen ordnet Trimp so ein: «Aus der Tatsache, dass Bavinck seine Gedanken in Form zahlreicher Fragen formuliert hat, sollte man nicht zunächst den Schluss ziehen, dass sich seine Einstellung geändert hat. Meiner Meinung nach lässt sich die Form der Frage durch Bavincks Arbeitsweise vollständig erklären: Nach so vielen Jahren formuliert er – im Hinblick auf eine mögliche Veröffentlichung – die Punkte seiner Problemstellung neu. Die Fragen sind Punkte der Aufmerksamkeit, in erster Linie für den Autor selbst.»
Graafland folgt inhaltlich einer ähnlichen Linie.
- Hätte Bavinck die Schrift veröffentlicht, wenn er um die Entwicklung der Schriftlehre innerhalb reformierter Kreise innerhalb der nächsten Jahrzehnte gewusst hätte? Noch zugespitzer: Hätte Bavinck heute nicht eine komplett andere Schrift veröffentlicht?
- Zur veränderten Tonlage: Diese stehe im Kontext neuer Entwicklungen in Kultur und Wissenschaft, die einer Antwort bedürften.
- Bavincks Frage habe mehr die reformierter Prinzipien betroffen. Er zweifelte daran, ob diese in der Lage sein würden, der steigenden Flut der modernen Kultur standzuhalten.
- Bavinck platziert zu Beginn seiner Ausführungen über die Schrift die Bemerkung, dass die Frage der Autorität nicht in Frage zu stellen sei; vielmehr gehe es um die Frage der Interpretation.
- Es sei Bavinck in der Hauptsache um den lebendigen Christus der Schrift gegangen, nicht um eine Loslösung bzw. Trennung von Christus und der Schrift. Später in der Schrift rede er von zwei Fixpunkten, nämlich Christus und der Schrift. Diese gehörten für Bavinck demnach zusammen.
- In seiner beispielhaften Aufzählung zu hermeneutischen Fragen stelle Bavinck AT-Prophezeiungen, der neutestamentlichen Ethik und den Gleichnisreden Jesu letztlich auf eine Stufe mit politischen Errungenschaften. Dies widerspiegle eine Ambivalenz/Inkonsistenz, die seinem eigenen Verhaftetsein in den vergangenen Jahrzehnten zuzurechnen sei.
Wie also sei die veränderte Tonlage Bavincks zu bewerten? Ähnlich wie Trimp kommt Graafland zum Schluss, dass Bavinck über das Auftauchen neuer Fragestellungen beunruhigt war. Bavinck habe sich nicht in der Lage gesehen, diese Fragen zu beantworten. Er habe gemerkt, dass er mit seiner bisherigen Argumentation wohl keine überzeugenden Lösungen bereithielte. Letztlich sei diese Schrift als Protest gegen reformiertes Selbstvertrauen zu sehen.