Der Aufsatz “Evangelium und Gesetz, zugleich zum Verhältnis von Dogmatik und Ethik” von Eberhard Jüngel (in: Barth Studien, Benziger/Gütersloher: Zürich & Köln/Gütersloh, 1982, S. 180-210) leistet ausgezeichnete Arbeit zu den komplexen dogmatischen Zusammenhängen der Umkehrung von Evangelium und Gesetz in Karl Barths Dogmatik. Meine Notizen:
Eine Programmansage: Das Programm entscheidet über Gotteslehre, Anthropologie und über die Lehre der Sünde. (180)
Die Unterscheidung bei Luther: Im Gesetz ist der Mensch Geforderter und Gebender, im Evangelium hingegen Nehmender und insofern Nichthandelnder; Gott im Evangelium Tätiger und im Gesetz Fordernder. (184)
Basis-Architektur bei Barth: Dreifache Gestalt des Wortes Gottes; Luthers Lehre kann gar nicht in Beziehung gesetzt werden. Es geht Barth primär nicht um die Unterscheidung, sondern die Zuordnung des Gesetzes zum Evangelium. (Gesetz und Evangelium erhält kein eigener Locus). (187)
Beziehung zur Ethik: Barth beantwortet die im Gesetz thematisierte Frage «was sollen wir tun?» als eine aus der in der Dogmatik beantworteten Frage nach dem Sein und Tun Gottes hervorgehenden Frage. (188)
Barths Befürchtung: Die Entgegenstellung der beiden Weisen des Wortes Gottes bei Luther (Gesetz und Evangelium) führe zu einer Entgegenstellung im Sein Gottes selbst. (189)
Grundthese: Wir kommen es im Gesetz mit keinem anderen Gott zu tun als mit dem Gott des Evangeliums. (190)
Die Lehre der Sünde bei Barth: In drei Gestalten innerhalb der Versöhnungslehre und dort jeweils nach der Christologie. (191)
Begründung der Nachordnung der Lehre der Sünde: Dass der Mensch böse ist, könne er nicht aus sich selbst wissen; schon der Zugang zu der Erkenntnis dass er ein Sünder ist, fehlt ihm gerade deshalb, weil er ein Sünder ist. Allein das im Evangelium selbst interpretierte Gesetz führe zur Erkenntnis der Sünde. (192/195)
Abstrahiertes Gesetz: Ein vom Evangelium abstrahierendes Gesetz führe zu einem abstrahierenden Gottesbegriff. Er richtet sich gegen den Biblizismus, der den Begriff des Gesetzes ganz oder fast ganz aus biblischem Material aufbaut. Er sieht dies als Problem des supranaturalistischen Rationalismus der Orthodoxie. (192-193)
Zwischenfazit: 1. Was als Gesetz Gottes in Betracht kommt, entscheidet allein das Evangelium. 2. Es gibt kein Evangelium, das nicht sofort als Gesetz den Menschen auch beansprucht. 3. Das Evangelium ist das dem Menschen Gottes Gnade zusprechende Wort Gottes. 4. Das Gesetz ist das den Menschen für Gottes Gnade beanspruchende Wort Gottes. 5. Im Gesetz äussert sich das inhaltlich als Indikativ der Gnade zu verstehende Evangelium in der Form des gnädigen Imperativs. (195)
Verbindung zur Anthropologie: Es geht um die Denkbewegung Gott > Mensch. Evangelium und Gesetz sind Gottesprädikationen und insofern anthropologisch relevante Begriffe. (198)
Dogmatische Grundlage: In seinem Handeln sind Evangelium und Gesetz das eine Wort. Da aber Gott der von Ewigkeit her in Freiheit Liebende ist – also nicht der Gesetzgeber, sondern der Erwählende , ist Gottes Gesetz von vornherein diejenige Gestalt seines dem Menschen zugute kommenden Verhaltens, die daraufhin ein ihm entsprechendes menschliches Verhalten fordert. Gott ist in seiner Ewigkeit nicht anders zu denen als wie er sich in Jesus Christus offenbart hat. Daher ist das Grundverhältnis von Gott und Mensch nicht nur ein wechselndes Verhalten, sondern durch die Zuwendung Gottes, die als solche Inanspruchnahme ist – durch Evangelium und Gesetz. (200)
Erwählung und Ethik: Ist Erwählung die Summe des Evangeliums, dann ist über das Wesen des Menschen im Evangelium entschieden, und die Heiligung ist nichts anderes als der dem Evangelium entsprechende Anspruch an den Menschen, sein Wesen zu verwirklichen. (202)
Unterschied zu Luther: Die Rede vom einen Wort Gottes, das als Evangelium die Gestalt des Gesetzes hat, verstehet auch den Menschen einheitlich so, dass schon dasn Innen des menschlichen Lebens vom Aussen her, schon das Sein des Menschen von seiner Tat her, schon die menschliche Existenz von ihrer Selbstbestimmung her, schon die Person des Menschen von seinem Handeln her konzipiert erscheint. (203-204)
Handelnder Mensch: Barths Anthropologie verstehet den Menschen als den Handelnden und sich-selbst-Bestimmenden, das Evangelium unmittelbar in die Gestalt des den Menschen als handelndes Wesen beanspruchenden Gesetzes überführt. Der Mensch ist paralleles Gleichnis zum Sein Gottes (im Unterschied zu Luther: Gott handelt, der Mensch empfängt, und handelt erst darauf hin.) (205-206)
Dogmatik und Ethik: Ist gerade der Handelnde der Gott entsprechende Mensch, dann ist die Frage nach der Güte des menschlichen Handelns und ihre Beantwortung – als Lehre vom Gebot Gottes –, dann ist die theologische Ethik ein Teil der Dogmatik. Ansonsten bestehe die Gefahr, dass die Dogmatik von der Ethik aufgesaugt werde, die Rede von Gott ein Prädikat der Rede vom Menschen. (207)
Meine Schlussfolgerung: Die von Jüngel gekonnt herausgearbeiteten Zusammenhänge zeigen Barths Werk als gigantische Rekonstruktionsarbeit der reformatorischen Lehre. Dabei erscheint mir insbesondere der Begriff des «Biblizismus» verkehrt. Übergeordnete systematische Entscheide, ausgehend von der Gotteslehre, überlagern letztlich den exegetischen Befund. In der Konsequenz wird das Gesetz vom Evangelium absorbiert – und so die Ethik von der Dogmatik aufgesogen!